Gute Architektur – Identität – Heimat

Da Sie in den letzten Vorträgen vermutlich eine erschöpfende Definition von gebauter Heimat und Stadt als Heimat bekommen haben, kann ich mich auf Ausführungen über Architektur beschränken. Diese Ausführungen gehen Fragen nach wie, was gute Architektur ausmacht, ob es in Zeiten der Globalisierung so etwas wie regionale Architektur noch gibt, in welcher Architektur sich der Mensch wohlfühlt und warum sich die neue Architektur gegenüber der alten so schwer tut. Zwischendrin gehe ich immer wieder kurz auf Ulm ein, dem ich meine Hochachtung aussprechen möchte zu dem städtebaulichen und baulichen Mut der Stadt, einen Mut, den ich anderen Städten wünschte.

Ernst Bloch sprach davon, dass Bauen ein Produktionsversuch menschlicher Heimat sei. Wem das zu abstrakt ist, den überzeugt vielleicht die Formulierung des Architekturkritikers Ulrich Conrads, der einmal Architektur als Spielraum für Leben formuliert hat.

Architektur ist überall. Und überall sind Einflüsse von Architektur. Architektur umgibt uns bei allem, was wir tun. Von Weizsächer sprach einmal von der Unausweichlichkeit von Bauten. Der Mensch wächst und verändert sich in Architektur. Und wie er das tut, hängt eng mit der Beschaffenheit der Räume zusammen. Wie wir uns fühlen, ob gut oder schlecht, fröhlich oder angespannt, ob konzentriert oder abgelenkt, Architektur beeinflusst uns. Dieser Einfluß ist nicht messbar, aber er ist da und nicht zu unterschätzen. Er ist nur begrenzt planbar, aber ungemein wichtig. Das heißt: die Aufgabe des Architekten ist eine wichtige. Ein Architekt plant nicht nur für die messbaren, sondern auch für die unmessbaren Bedürfnisse des Menschen. Er plant nicht nur für Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kranksein, sondern auch Räume zum Spielen und Träumen.

Gute Räume sind wie gute Kleidung. Sie beengen nicht, sie erlauben dem Menschen die Freiheit der Bewegung, sie geben ihm Spielraum für Anforderungen jeder Art, für den repräsentativen Auftritt, für die Konzentration, für den Rückzug, für das informelle Gespräch. Gute Räume sind keine Handschuhe für nur einen Zweck, sie sind vielmehr von großzügiger Vielfalt. Gute Räume sind Heimat und Bühne gleichzeitig, unaufdringlich, selbstverständlich, trotz wechselnder Anforderungen. Gute Räume sind nicht festgelegt, sie sind in einer Art Schwebezustand zwischen durchsichtiger Ordnung und vieldeutiger Möglichkeit.

Wenn Architektur Heimat für Menschen sein soll, dann kann es nicht angehen, dass das Leben sich der Architektur unterordnet, wie die klassische Moderne dies häufig propagierte. Eben die Zwanghaftigkeit moderner Architektur und das Diktat, dass Gebäude keine Emotionen wecken sollten, sondern nackt und abstrakt zu sein hätten, hat ja die A blehnung solcher Verzichtsarchitektur bewirkt. Die meisten Menschen sind mit der neutralen Gestaltung ihres Lebensraumes hoffnungslos überfordert. Nicht viele Menschen sehen im architektonischen Minimalismus die Krone architektonischer Gestaltung. Nicht umsonst lieben viel die Ornamente eines Friedensreich Hundertwassers, seine farbenfrohen Idyllen und die Sinnlichkeit seiner Häuser. Aber diese Sinnlichkeit ist nur Fassade und Schablone. Sie ist ein oberflächliches Versprechen. Die Wohnungen selbst sind fast unbrauchbar. Der amerikanische Architekt Robert Venturi hätte Hundertwassers angebliche Paradiese „dekorierte Schuppen“ genannt und Recht gehabt.

Wie gesagt, nicht jeder Mensch kann wie Architekten „jede glatte Wand für ein Ereignis halten“ (Walfried Pohl). Der normale Mensch verlangt Vielfalt, Farbe und eventuell sogar Ornamente in einer Architektur, die er gut finden soll. Die Psychologie gibt ihm recht. Bei einem detailreichen Bau entdeckt das Auge auch bei mehrfachem Hinschauen noch Neues, und wo das der Fall ist, das loggt sich auch das Interesse und die Neugier des Menschen an.

Die erste Forderung an gute Architektur ist also die von Vielgestaltigkeit, Detailfülle und farbigem Reichtum.

Die meisten Menschen erwarten von guter Architektur, dass sie eine unmittelbare Wirkung auf ihr Gemüt hat. Sie hoffen, dass in einem solchen Bau etwas zutage tritt, das wie verschollen aus ihrem Unterbewusstsein auftaucht, ein Zauber, eine Erleuchtung, ein Staunen. Genau dies aber hat die Moderne dem Menschen vorenthalten. Ration, Technik und Wissenschaft wollen von solchen Gefühlen nichts wissen. Dennoch gibt es weltberühmte moderne Bauten, die genau diese Gefühle wecken. So die Wallfahrtskirche von Ronchamps von Le Corbusier oder Gottfried Böhms Betonkirche in Neviges. Man muß diese Räume unter gestalterischen Aspekten nicht lieben. Aber wer in diesen Räumen steht, der staunt, der ist betroffen, der fühlt sich angerührt. Selbst als Nichtgläubiger. Was die Faszination dieser Bauten ausmacht und was jeder Mensch, der diese Räume betritt, instinktiv spürt, ist die untrennbare Verbindung von Konstruktion, Erschliessung, Raum und Farbe. Dieses sind Bauten aus einem Guß, keine Einheitsräume, die sich eigentlich nur der Fassade widmen und nur vielfältig tun, aber innen langweilig und einheitlich sind.  Gute Architektur, die Heimat sein soll, muß innen wie aussen stimmen.

Menschen möchten eine Architektur „schön“ nennen können.  Ohne auf die Abgedroschenheit des Begriffs „schön“ einzugehen und darauf, dass jeder darunter etwas anderes versteht, nur so viel: Wenn ein Haus oder ein Raum schön genannt wird, so ist damit nichts Eindeutiges gemeint, sondern vielmehr ein Ineinandergreifen von Einzelelementen und ein Zusammenklang aus Unterschiedlichem. „Schön“ bezieht sich nicht nur auf Formen und Gestaltung, sondern auch auf ein Stück erlebter Freiheit dessen, der von „schön“ spricht. Das Schöne in der Architektur und die Güte eines Raumes sind nicht nur abhängig von Stilen, Techniken, Materialien, Inhalten und Nutzungen, sondern auch von Anschauungsreichtum, Lebendigkeit und Denkfreiheit. Gute Räume sind geprägt durch Sorgfalt und Vielfalt, sie lassen die Seele atmen und den Menschen sich wohlfühlen. Gebaute Heimat hat viel mit Freiheit und Spielraum zu tun. Sie erlaubt dem Menschen ein Mitwirken im Gegensatz zu den Bauten Hundertwassers, die ihm zwar eine Art gebautes Paradies suggerieren, es ihm aber nach dem Prinzip des „Friß Vogel oder stirb“ aufzwingen.

Gute Architektur schafft Atmosphäre. Aber wie schafft man die? Wodurch entsteht sie? Was ist sie denn eigentlich? Ergibt sich Atmosphäre als kostenlose Dreingabe guter Architektur? Der amerikanische Architekturpublizist und –philosoph Mark Wrigley sagt dazu: „ Wie wird Atmosphäre konstruiert? Atmosphäre beginnt offenbar dort, wo die Konstruktion endet. Sie umgibt ein Gebäude, haftet seiner Materie an. Tatsächlich scheint sie dem Objekt zu entströmen. Das Wort „Atmosphäre“ wurde ursprünglich zur Bezeichnung der Gashülle benutzt, von der Himmelskörper umgeben sind. Ganz ähnlich scheint die Atmosphäre eines Bauwerkes durch dessen physische Form erzeugt zu werden. Sie ist gewissermassen eine sinnlich wahrnehmbare Emission von Schall, Licht, Wärme, Geruch und Feuchtigkeit, ein wirbelndes Klima nicht greifbarer Effekte.“ Für den Erfolg eines Baus ist seine Atmosphäre unerlässlich. In der guten Atmosphäre eines Baus fühlt sich der Mensch instinktiv wohl. Insofern gelingt der Atmosphäre eines Baus ein sinnstiftendes Erleben, das der Mensch in Bruchteilen von Sekunden emotional erspürt, auch wenn er oder sie es vielleicht nicht erklären kann.
Die Wirkung architektonischer Atmosphäre fußt auf den Charakteristika räumlicher Strukturen und archetypischer Erinnerungsmuster, die jeder Mensch in sich trägt. Werden sie angesprochen, so erzeugen sie ein physisches und psychisches Aufgehobensein – Heimat eben . Schon Frank Lloyd Wright wusste: „ Ob die Menschen sich dessen bewusst sind oder nicht, sie beziehen Zuversicht und Nahrung aus der Atmosphäre der Dinge, in oder mit denen sie leben. Sie wurzeln darin wie eine Pflanze in ihrem Boden.“

Wie muß gute Architektur beschaffen sein, um Heimat zu bieten? Architektur ist weder Kunst noch Design, weder Happening noch Logo, Architektur ist soziale Baukunst. Sie ist zuallererst dem Menschen und seinem Wohl verpflichtet- ein vielleicht altmodische Annahme, zu der ich aber gern stehe. Sie ist einerseits eine gesellschaftliche Kraft, die den Gefühlen, den Stimmungen und Befindlichkeiten des Menschen Raum gibt. Andererseits reflektiert sie die Ideale und Wertmaßstäbe einer Gesellschaft. Die beste Architektur ist nicht die der Hektik einer überzogenen Form, die beste Architektur strebt nach einer Verschönerung und Poetisierung des Lebens.

Aber wir stehen heute einer nach Höchstleistungen und Auffälligkeiten strebenden Architektur gegenüber. Das Schräge, das Laute, das Extravagante, das unentwegt Neue und Neueste in der Architektur werden nachgefragt, publiziert, besucht. Der Blick auf die gebauten Sensationen in Shanghai und Dubai verstellen den Blick dafür, dass auffallende Architektur nur als Ausnahme gut ist, nicht aber als Regel. Ein Bau wie Böhms Ulmer Bibliothek in Form einer Pyramide, die aus dem gesamten Kontext der Stadt herausfällt und die sich nicht integrieren lässt und will, ist als Einzelbauwerk einigermassen erträglich. In mehrfacher Ausführung wäre sie stadtbildzerstörend. Selbst wenn Publikationen, Medien und manche Politiker den Reiz der einmaligen Form und des Auffallenden suchen, so ist doch klar, dass eine gute Stadt nicht mit Denkmalen bauherrlicher oder architektonischer Willkür oder Selbstdarstellung zu machen ist. Weltwunder dürfen einmalig sein, aber was eine Stadt braucht ist vor allem eine Architektur von grosser, von höchster Qualität des Alltäglichen, um nicht zu sagen des Normalen. Aber das gute Normale bzw. das zurückhaltende Richtige, alltägliche Baukunst also, werden nicht geschätzt und fallen meist hintenüber.

Baukunst- was ist das eigentlich? Ohne dies auch nur annähernd zu erklären, scheint mir Baukunst in den meisten Fällen eher leise als schrill, eher zurückhaltend als spektakulär, eher auf den zweiten Blick aufregend als auf den ersten aufreizend, eher nachhaltiges als kurzfristiges Feuerwerk. Baukunst muß nicht unbedingt  populär sein. Die von Helmut Striffler in Dachau errichtete Kirche, ein spröder Bau aus Beton, einem Mahnmal gleich, der sich mit einem langen nüchternen Gang in die Erde vorarbeitet, um dort in einer kleinen Kapelle zu enden, ist heute kaum noch bekannt. Und dennoch ist er einer der wichtigsten Bauten der Nachkriegszeit, spröde, intensiv, unbequem, in allem das Gegenteil von einem anderen Stück Baukunst, dessen Qualität der Welt bei seiner Fertigstellung sofort einleuchtete: der olympischen Zeltarchitektur von Günter Behnisch. Sie ging 1972 als Symbol eines anderen Deutschlands um den Globus, sie war ein Zeichen heiterer Spiele, ein Symbol für den Neuanfang eines Landes, wo alle Welt noch den Stechschritt der Nazis im Ohr hatte – die fröhlichen Zeltdächer waren sofort und allen verständliche Baukunst.

Gute alltägliche Architektur provoziert nicht, sie überzeugt, sie ist von unspektakulärer Klarheit und undramatischer Gelassenheit. Das Haus der Sinne in Ulm und der Sparkassenbau sind für mich solche Architekturen, elegant, aber zurückhaltend, eigenständig, aber dennoch alltagstauglich. Ich weiß, dass ich damit nicht allen Ulmern aus der Seele spreche. Aber ich persönlich bin der Meinung, dass diese Bauten sich einpassen, dennoch aber Neues und Grundsätzliches für den neuen Stadtraum schaffen, in dem sie stehen.

Ulm ist ein gutes Beispiel dafür, dass wer Stadt als Heimat baut, Mut braucht, soziale Phantasie, einen langen Atem und Durchsetzungskraft. Ulm hat dazu Vergangenheit und Zukunft zusammen gedacht und nicht auf Architektur als Konsumgut gesetzt, sondern gerade im Bereich der Neuen Strasse auf eine Architektur auch von grosser städtebaulicher Qualität gesetzt, die neue Plätze schafft, alte Fluchtlinien aufnimmt und die Stadt an einem Punkt wieder heilt und zusammenwebt, wo sie über Jahrzehnte nur eine „Spukgeschichte aus den Pubertätsjahren des modernen Städtebaus“ (Gottfried Knapp) war.

Moderne Architektur ist Schwarzbrot für die meisten Menschen, schwer zu begreifen und schwer zu schlucken. Alte Architektur findet fast immer den direkten emotionalen Weg ins Herz des Betrachters. Alte Architektur wird geliebt, aber auch gute moderne misstrauisch beäugt. Zeitgenössische Architektur braucht Geduld, häufig auch Erklärungen durch Fachleute. Baukunst also nur eine Sache für Eingeweihte? Ja und nein. Ja, wenn es darum geht, Kriterien und Erklärungen für gute Architektur nachzuvollziehen. Das ist ohne gute Vermittler und geduldige Erklärer kaum machbar. Nein, wenn der Mensch mit anderen Sinnen als dem Verstand Baukunst erfassen kann: als Grundriss, in dem er sich gut zurechtfindet, als Bau, in dem er sich instinktiv wohlfühlt, als Haus, in dem er sich nicht klein fühlt, als Raum, der ihn anrührt.

Ich erinnere an Volkes Zorn und Protest gegen das Stadthaus, in dem wir uns aufhalten. Dieses Stadthaus, das sowohl eine grosse stadträumliche Qualität hat, aber auch als Gefäß des Lichtes fungiert und als Bühne, von der  das Münster in immer neuen Blickbeziehungen und Ausschnitten erlebt wird, war sozusagen das Trainingsstück, an dem die Ulmer sich in Sachen moderner Architektur ein- und abgearbeitet haben. Ich denke, heute wird dieses Stadthaus vielleicht nicht geliebt, aber doch akzeptiert, so dass es aus Ulm nicht mehr wegzudenken ist. Alle Bauten, die geliebt oder geachtet werden, haben eine lange Lebensdauer.

Gute Architektur ist eine, die sich kümmert: um die Menschen, für die sie bestimmt ist, und um den Ort, wo sie entsteht. Ohne genius loci, also ohne das Eingehen auf den Ort beim Bau eines Hauses gibt es keine gute Architektur. Das genau war ja die Sünde des Internationalen Bauens, dass sich die Architektur von Norwegen bis Tokio zum Verwechseln ähnlich sah. Gutes Bauen ist immer ein Arbeiten im Kontext und Ausdruck der Auseinandersetzung mit einem konkreten Ort. Heidegger hat in seinem Aufsatz “Bauen, Wohnen und Denken“ ausgeführt, dass Denken untrennbar mit Ortserfahrung verbunden ist. Ohne beides gibt es kein Gefühl von Heimat. Der Mensch baut von konkreten Orten her seine Beziehung zur Welt auf, auch und vor allem in Zeiten zunehmender Heimatlosigkeit. Ich wage die Behauptung, dass wir nicht als ständig Reisende geboren sind, sondern unseren Ort, an dem wir uns zuhause fühlen, brauchen. Die Zukunft ist vielleicht virtuell, ein Haus und ein Ort sind es aber bestimmt nicht. Peter Sloterdijk fordert in „Der ästhetische Imperativ“, dass jeder Mensch in seiner Wohnung eine Art „Weltinsel“ erleben kann, also die Präsenz der Welt an einem Ort und zu einer Zeit erfährt. Das nennt er Heimat.

Das Verständnis für einen Ort ist nicht einfach da. Es will erarbeitet werden, mit Neugierde und Akribie. Orte erzählen immer eine Geschichte und bilden eine Realität, die in ihren Formen und ihren Räumen zutage tritt. Aber über ihre materielle Beschaffenheit hinaus werden Orte von kulturellen Befindlichkeiten geprägt. Diese zu verstehen verlangt von Architekten gerade an ihnen fremden Orten Sensibilität, Respekt und Erfahrung. Wenn ihr Bau für einen bestimmten Ort zu dessen atmosphärischem Reichtum beitragen und eine neue Identität schaffen soll, dann kann man ihn nicht nach einem vorgefaßten Bild bauen, wie manche Baumeister dies tun. Wenn ein neuer Bau an einem bestimmten Ort gebraucht und geliebt, entdeckt, adaptiert, erinnert und vererbt werden soll, wenn in und durch ihn das Verhältnis der Menschen in ein neues Gleichgewicht gebracht werden soll, dann bedarf es auf Seiten des Architekten einer analytischen Schau des Ortes, in der dessen Eigenheiten mit seiner Vision neuer geplanter Räume verbunden werden.

Es gibt keine Orte ohne Geschichte. Aber viele Orte sind sich ihrer selbst heute entfremdet. Ihr Gedächtnis ist sich seiner physischen und kulturellen Werte nicht mehr bewusst. Ein Bau, der auf einen solchen Ort eingeht, ebenso sensibel wie entschieden, ebenso kunstvoll wie bewusst, vermag ein verschüttetes Bewusstsein wieder zu wecken. Dabei können Beeinträchtigungen in Tugenden und Schwierigkeiten in Charakteristika verwandelt werden. Nur ein solches Bauen, das die Bedingungen des Lebens und eines Ortes auszuloten versteht, können Menschen sich an-eignen. Eine schrille, schräge Architektur mag temporär grössere Begeisterung wecken als ein eigen-tümlicher Bau, aber er schafft selten Identität. Nur ein Gebäude, in dem sich Geschichte zu einem Ort verdichtet, wo die eigene Zeit mit der früheren in Konstellation tritt, macht Identifikation möglich. Identifikation findet ja prinzipiell dort mit einem Gebäude  statt, das so charakteristisch ist, dass es Eigenart hat, und so grundsätzlich, dass es gar nicht anders ein kann, als es ist.

Der kleine Prospekt, der zu dieser Veranstaltung einlädt, spricht von regionaler Ulmer Architektur. Ich weiß nicht genau, was die Veranstalter darunter verstehen. Vermutlich meinen sie eine für Ulm passende und richtige Architektur. Unter regionaler Architektur versteht man aber gewöhnlich ein ortstypisches Bauen, das nur hier und nirgendwo anders zu sehen ist. Ich glaube nicht, dass es in Ulm eine solche Architektur und die tradition dafür gibt. Ich will dies begründen.
 
Kreativität lebt vom Vergleich. Gerade auf dem Felde der Architektur, wo die Grenzen weit offen sind, ist weltweite Kommunikation unumgänglich. Daß die Globalisiserung für Architektur eine Steigerung der Beliebigkeit bedeutet und eine zunehmende Gefahr der Nivellierung, haben die letzten Jahrzehnte gezeigt. Die weltweite Vereinheitlichung – in gewisserweise sogar notwendig – wird von niemandem wirklich geschätzt. Aber der Traum von Regionen, die eine traditionsreiche Kulturvielfalt haben und als Geburtsort immer neuer Anregungen und Ideen für den Rest der Welt funktionieren könnten, ist nur mehr ein frommer Wunsch bzw. eine Ideologie ohne Grundlage. Das Europa der Regionen ist zwar vielfältiger als andere Teile der Welt, aber die Entwicklung zu einem internationalen Esperanto in der Architektur ist unumkehrbar.

Der Vorarlberg galt lange Zeit als formales Schatzkästlein für ganz Europa. Seine Architekten wurden berühmt, aber seine Schlagkraft lag zunächst weniger in der Güte der Architektur als vielmehr in der Rebellion und der Allianz einer jüngeren Generation gegen erstarrte und belanglose Konventionen. Die Architekten des Vorarlbergs wurden mit Bauten bekannt, deren eigenständige Qualität der Pflege baulicher Tradition und einer zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Ort und der Gesellschaft erwuchs. Aber sie blieben dabei nicht stehen. Ihre Orientierung blieb nicht ihre begrenzte Heimat, sondern war auch die Welt. Und das machte ihre Faszination aus: dass sie den Blick über den Zaun verbanden mit einer regional inspirierten, verwurzelten Architektur.

Eine kulturregionale Architektur von Qualität kann sicher auch in unserer globalisierten Welt nach wie vor eine grosse Rolle spielen, wenn sie nicht auf äusserlichem Formalismus aufbaut, sondern auf der begrenzten Lebenswelt von Menschen mit ihren Lebensstilen, Ängsten, Träumen und Wertvorstellungen. Aber wo lässt sich dergleichen noch finden? Die Unschuld des regionalen Blicks scheint endgültig verloren.

Region kann heute nur noch geistige Heimat sein. Jede bedeutende Entwicklung in der Architektur braucht als Voraussetzung die Begegnung mit dem Neuen, dem Anderen, dem Fremden. Wer als Architekt vorhandene Lebenswelten optimieren will, kann dies nur mit dem Blick nach vorn und über die Grenzen. Denn schließlich lebt alle Kultur von zwei Aspekten: der Weiterführung des Vertrauten und der Assimilierung des Neuen. Um Eigenart zu entwickeln, bedarf es der Orientierung nach aussen. So wie sich früher Handwerksburschen am Ende ihrer lokalen Lehre auf Wanderschaft begaben, um in der Fremde Erfahrungen zu sammeln und Prägungen zu bekommen.

Gute Architektur schöpft nicht allein aus Bestand und Tradition. Nach Meinung Peter Zumthors wäre das eine platte Wiederholung ohne Auseinandersetzung mit der Welt „und dem Aroma der Gegenwart.“ Und wer die Auseinandersetzung mit dem konkreten Ort vor Ort sucht, der baut mit Erinnerung und Erfahrung an und von anderen Orten der Welt. Zumthor nennt das so: „ Ich begebe mich einerseits in einen Ort hinein, spüre ihm nach, und gleichzeitig blicke ich nach aussen, in die Welt meiner anderen Orte. Es ist das dem Ort Fremde, das mir hilft, das dem Ort Eigentümliche neu zu sehen.“ Es ist für ihn auch kein Gegensatz, lokal verankert und dennoch und gleichzeitig Weltbürger und Vielreisender mit Heimat an einem Ort zu sein, und dennoch überall in der Welt zu bauen.

Viele der guten neuen Bauten Ulms sind auf solchen Geiste  entstanden. Architekten haben nicht formal willkürlich Bauten hingestellt, sondern einfühlsam den konkreten Ort Ulm mit der Welt zusammengedacht. Das ist es, was Mies van der Rohe meinte, wenn er davon sprach, dass er hart daran arbeite, herauszufinden, was er tun müsse, nicht was er tun möchte.

Auch Ulm ist vermutlich inzwischen von dem  geradezu inflationären Gebrauch der Bezeichnung „Baukultur“ erreicht worden. Der Begriff ist so schwammig wie nichtssagend. Meist wird darunter gute Architektur verstanden. Baukultur meint aber viel mehr. Wer über Kultur spricht, auch über Baukultur, spricht bekanntlich über Haltungen und Werte einer Gesellschaft und darüber, ob ihr das Bauen gleichgültig ist oder ob sie damit einen gestalterischen Anspruch verbindet. „Baukultur ist ganzheitlich und unteilbar. Sie ist keine Stilfibel, kein Musterkatalog. Nicht eine einzelne Architektur steht für die Baukultur einer Zeit, sondern die Gesamterscheinung ihrer Werke als Abbild der Gesellschaft“, so Max Bächer. Baukultur kann man nicht befehlen, verordnen, planen oder kaufen. Man kann für sie nur durch Ideen, Mut, Neugierde und Risikobereitschaft ein Klima erzeugen, mit dem sich viele identifizieren. Baukultur ist das Ergebnis von Voraussetzungen und Randbedingungen der jeweiligen Zeit und insofern immer ein Spiegelbild der Gesellschaft, ihrer Sehnsüchte, ihres Wollens, ihrer Stärken, ihrer Irrtümer. Baukultur ist mehr als ein guter Bau, es ist ein kultureller Prozeß, an dem alle teilhaben.

Wenn in einer Stadt in Deutschland dieser Prozeß der Baukultur positiv abläuft, so hier in Ulm. Ich sage das in aller Ehrlichkeit und mit Überzeugung, und ich bin nicht für Lobhudelei bekannt.

Ich kann Ulm nur raten, seinen bisherigen Weg mit mutigen Experimenten weiter zu beschreiten. In Richtung Bahnhof gibt es noch eine Menge zu tun. Dem 21.Jahrhundert ist nicht mit bekannten Rezepten beizukommen. Kreativität ist immer das Ergebnis einer Provokation und das Resultat einer gelungenen Störung. In diesem Sinne wünsche ich Ulm eine kreative Zukunft.