Neviges und Meschede

Der Vergleich zweier Betonbauten – Gottfried Böhms Kirche und das Haus der Stille von Peter Kulka

Es war kurz vor Weihnachten 198o, als ich Neviges das erste Mal besuchte. Der Himmel war grau. Schnee lag auf den Fachwerkhäusern und dem kantigen Gebirge der Kirche. Sie wirkte wie ein dunkler Kristall, den ein Riese dort hingestellt hatte. Das Weiß des Schnees ließ die markante Struktur dieses Baus, der Neviges als sichtbare Stadtkrone überragt, wie ein abstraktes Gebilde erscheinen. Die Seitentür zum Altar stand offen, und Arbeiter trugen grosse Tannenbäume hinein. Ein Posaunist übte, sonst war niemand in dem grossen Raum, den ich betrat. Ich stand in einer Kirche, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, in einem kristallinen Betonmassiv, dessen Dach über mir wie im Nebel verschwand.

Mir war klar, dass ich eine der bedeutendsten Schöpfungen der modernen Architektur erlebte. Gleichzeitig fühlte ich mich wie an einem archaischen, magischen Ort. Die Stimmung in diesem großartigen Raum berührte mich unmittelbar. Seine fast mystische Atmosphäre verdichtete sich zu etwas fast Greifbarem, der Ahnung einer Macht, die mir eigentlich fremd ist und an die ich gewöhnlich nicht glaube. Ein ähnliches Erleben habe ich seither bei fast allen Menschen beobachtet, denen ich die Kirche zeigte. In diesem faszinierenden Raum spüren auch Nichtgläubige die Gegenwart eines transzendenten Wesens.

Die Wallfahrtskirche in Neviges ist einer der seltenen Orte der modernen Architektur, die einen besonderen Geist atmen. Gottfried Böhm ist mit dieser gebauten Vision über sich hinausgewachsen, so eindrucksvoll sein sonstiges Ouevre auch ist. „Ich wollte nur eine schöne Kirche bauen“, sagt er , sie wurde „sein genialstes Werk“ (Manfred Speidel).

„Wirklich, der Herr ist an diesem Ort,“ heißt es in der Genesis 28.16. Hier in Neviges trifft das zu. In dieser Kirche lebt so etwas wie heilige Gegenwart, die jeder erspüren kann. Im Dom von Neviges scheinen mir die Forderungen der Synode der EKD aus dem Jahre 2oo3 an den Kultraum Kirche eindringlicher und ausdrücklicher als anderswo umgesetzt: „Wer eine Kirche aufsucht, betritt einen Raum, der für eine andere Welt steht. Ob man das Heilige sucht, ob Segen oder Gottesnähe oder schlicht Ruhe, ob ästhetische Momente im Vordergrund stehen, immer spricht der Raum durch seine Architektur... Kirchen sind Orte, die Sinn eröffnen und zum Leben helfen können, Orte der Gastfreundschaft und der Zuflucht. Sie sind Räume, die den Glauben symbolisieren, Erinnerungen wach halten, Zukunft denkbar werden lassen, Beziehungen ermöglichen, zu sich selbst, zur Welt, zu Gott“.

Die Wallfahrtskirche ist bis heute vor Ort eine Provokation. Das Betongebirge ist heute so fremdartig wie zum Zeitpunkt seiner Entstehung. Aber inzwischen sind die Bürger stolz auf die expressive Monumentalplastik in ihrer Mitte, die der Bauherr, der Kölner Kardinal Frings, ausdrücklich so wollte. Man muß sich vor Augen führen, dass die Kirche schon 1967 fertiggestellt wurde und bis heute ein  einzigartiges Experiment in Sachen Konstruktion und Material darstellt, das an Grösse, Mut und Zeichenhaftigkeit alle dekonstruktivistischen und anderen Bauten von heute in den Schatten stellt.

Über einem Zentralraum auf unregelmässigem Grundriß von 5ox 37  Metern durchdringen und schliessen sich drei unterschiedlich hohe Pyramiden wie ein alpines Gebirge bis zur höchsten Spitze zusammen. Diagonale und abknickende Wände übersteigen einander und werden wie von einer unsichtbaren vertikalen Achse zusammengehalten. Einerseits hält das freitragende Betonfaltwerk, das wie aus einem monolithischen Guß erscheint, den Bau in seiner Schwere am Boden und vermittelt doch den Eindruck einer in die Höhe strebenden Schwerelosigkeit. Die grobkörnige Materialstruktur des Betons und die nachgedunkelten Wände erinnern an ein kristallines Naturdenkmal, andererseits zeugt der virtuos gestaltete Raum in seiner nur scheinbar roh belassenen Materialität von einer schöpferischen Passion, die demonstriert, was Baukunst wirklich vermag.
Bei aller gewaltigen Grösse des Raumes, der mit seinem Platz für über 6ooo Menschen nach dem Kölner Dom die zweitgrößte Kirche der Diözese ist, ist der Mariendom ein bergendes Gehäuse, das erhebt und nicht verunsichert. Hier fühlt sich auch ein Einzelner wohl und nicht verloren.. Die Gegenseitigkeit von Raum und Mensch erlaubt Einkehr und Sammlung. Aber auch in der eng gedrängten Menschenmenge einer Wallfahrt, für die dieser Raum ja konzipiert wurde, wirken die umbaute Bewegung des Gotteshauses und seine schiere Höhe beruhigend und gelassen.

Gottfried Böhm inszeniert seine Räume als Ereignis, als Erzählung, als Zeichen. Neviges scheint sowohl das naturnahe Bild von Petrus, dem Felsen, auf den Christus seine Kirche bauen will, umzusetzen, als auch die Allegorie des Mantels der Maria, unter dem die Gläubigen „Schutz und Schild“ finden.

Manfred Sack schrieb einmal: „Niemand kann sich dem Erlebnis dieses machtvollen Raumes entziehen“. Das hat jenseits von Material und Konstruktion auch damit zu tun, dass die Welt in dieser Kirche Platz findet, als Menschen, die an einer Wallfahrt teilnehmen, aber auch im gebauten Bild eines städtischen Marktplatzes. Der Eindruck eines im Inneren der Kirche eingehausten Stadtraumes entsteht durch dreigeschossige Emporen mit Fenstern und Balkonen zu beiden Seiten des zentralen Platzes. Dieses vertraute Bild hilft  Menschen, sich in diesem feierlichen Raum heimisch zu fühlen.

Die Atmosphäre von Kulträumen ergreift Menschen gewöhnlich stärker als das verkündete Wort. Was den großartigen Raum in Neviges besonders dramatisiert, ist sein Licht. Das Licht hilft, die Plastizität seines Innenraumes zu verstärken. Des Lichtes  dunkler Bruder, der Schatten, schöpft räumliche Vielfalt aus Dämmerungen und gibt den Flächen Tiefe und Geheimnis. Im Grunde ist das Schaffen von Raum in der Architektur nichts anderes als eine Verdichtung und Läuterung von Licht. Und das überwältigende Innere von Böhms Kirche lebt vom Licht.  

Neviges ist eine „mit magischem Farblicht inszenierte Gottesburg“ (Wolfgang Pehnt). Es ist das atemberaubende Rot der glühenden Rosen in den von Böhm selbst entworfenen Fenstern, die das Innere in eine mystische Farbigkeit tauchen. Zu gewissen Zeiten, wenn die Sonne durch die Fenster in den dunklen Innenraum dringt, färbt sich der Marktplatz und seine Randbebauung rötlich, und es wird jedes Detail wie bei einem Sonnenaufgang deutlich. Dann bricht sich das Licht im rau belassenen Beton der Wände als glühten die Oberflächen. Doch auch bei trübem Wetter bewirkt der einzigartige Reiz der Fenster eine Atmosphäre, als sei das Kircheninnere nicht von dieser Welt. Die Rose steht für  „rosa mystica“, das Symbol Marias, die an diesem Wallfahrtsort seit dem 17.Jahrhundert verehrt wird. „Das Licht leuchtet in der Finsternis,“ heißt es in der Bibel.Hier in Neviges hat Böhm dafür eine faszinierende Versinnbildlichung gefunden.

Der Dom in Neviges ist der Raum für die kirchliche Inszenierung und den grossen Auftritt, das Haus für die Wallfahrt mit vielen Menschen. Hier wird gesungen und gebetet, hier herrscht Leben und Trubel, ein Gehen und Kommen, wenn Tausende das Ziel ihrer Pilgerreise erreichen. Das Haus der Stille in Meschede ist, was sein Name besagt, ein Ort der Meditation, Kontemplation, der inneren Einkehr. Hier soll der Mensch „auf die Stille hören“ (Henri Nouwen) und wesentlich werden. Nicht die Begegnung mit Gott ist Ziel , sondern der Weg in die eigene Mitte. Daß der Mensch allerdings auf der spirituellen Suche in seiner Tiefe angesprochen wird und über die eigene Bewußtwerdung auch Gott entdecken kann, ist kein Widerspruch. „Stille ist ein Schweigen, das den Menschen Augen und Ohren öffnet für eine andere Welt“ (Teresia Benedicta a Cruce, vorher Edith Stein).

Das Haus der Stille gehört zur Benediktiner Abtei Königsmünster, die 1928 gegründet wurde. Der vielfältige Komplex aus Kloster, Kirche und Schulgebäuden benötigte ein Gästehaus, offen für alle, als Ort der Begegnung ebenso geeeignet wie als Kraftquelle für diejenigen, deren Ziel der Weg zu sich selbst ist.
Peter Kulka baute das Haus in Sichtbeton und Glas als nüchternen Ort in dieser Welt. Es wurde 2oo2 fertig. Es ist eine Architektur für das Wagnis, ganz Mensch und ganz man selbst sein zu können. Und da in die eigene Tiefe zu gehen, seiner Sehnsucht auf die Spur zu kommen und für die eigene Zukunft neuen Raum zu finden, ständiges Bemühen bedeutet, ist das Haus ebenso als Halt und Rahmen für diese Erfahrung gedacht wie auch als Weg dahin konzipiert. Peter Kulka sagt von sich: „ Ich habe viele Moden mitgemacht, aber jetzt bin ich angekommen – bei der zeitlosen Schönheit“. In der Tat ist das Haus der Stille ein schöner Bau, klar, streng, formal reduziert, in der Balance zwischen Anmut und Askese. Ein Bau für den zweiten Blick.

Zwei schlichte Betonblöcke, von einer Art Schlucht getrennt, die von vier verglasten Brücken überquert wird, liegen parallel zueinander an einem Hang. Ein Haus von massiver Geschlossenheit, gleichzeitig zur Rückseite mit Blick auf eine Apfelbaumwiese und weidende Kühe ein Haus des Ausblicks. Der Meditationsraum ist zwei Geschosse hoch und öffnet sich voll auf dieses bukolische Ambiente. Die Kapelle dagegen ist ein nur durch ein schmales Fenster erhellter Andachtsraum,in dem stärker als in jedem anderen Teil des Hauses der eigene Körper als Zentrum der Stille erlebt wird. So wie die Mönche sagen, dass in der Enge des Klosters bedeutet, in die Tiefe gehen zu müssen, so konzentriert sich dieser karg- schöne Raum mit seinem hohen minimalistischen Kreuz aus Edelstahl ganz nach innen. Es ist ein suggestiver Raum, wie ihn  ähnlich bei ihren Kirchen und Klöstern schon Tadao Ando und Luis Barragan entworfen haben.

Das Haus der Stille, das aussen wie eine neutrale Hülle erscheint, ist genau dies nicht. Seine Gestalt entspringt der differenzierten Auseinandersetzung mit dem Ort und der diesen umgebenden leicht hügeligen Landschaft. In seiner Gratwanderung aus Prägnanz und Zurückhaltung reflektiert das Haus eine Kultur des Verzichtes, die Mies van der Rohe mit seinem Weniger ist Mehr meinte.

Das Haus der Stille bereitet als Architektur den Weg auf der Suche nach geistiger Orientierung. „Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen von uns selbst gibt“, schreibt Richard Beauvais. Auf diesem Weg bietet die Betonhülle des Hauses „ umschlossene Geborgenheit, eine Festigkeit, die  Abstand von den Dingen der Welt erlaubt“ (Yorck Förster). Dieser Beton ist ein gänzlich anderer als der in Neviges, heller, erlesener,  fast samtig und warm. Erfährt der Mensch in Neviges das Material des Domes als kraftvolle Hülle um die Gemeinde, wird der Beton im Haus der Stille sehr viel sinnlicher und unmittelbarer fast wie die eigene Haut mit ihren Verfärbungen, Spuren und Narben erlebt.