Die Sünde der geraden Linie

oder Hundertwasser im Kontext moderner Architektur

Hundertwassers Bauten polarisieren; man liebt sie oder lehnt sie ab. Eine gleichgültige Haltung gegenüber seinen bunten Welten ist bei kaum einem Menschen anzutreffen. Dasselbe gilt für seine Philosophie, die er zu Lebzeiten  ähnlich grundsätzlich wie die Zehn Gebote immer wieder verkündete. Einer Forderung wie dieser: „Architektur soll den Menschen erheben und nicht gleichschalten und erniedrigen. Architektur soll für den Menschen da sein, er muß sich geborgen... und wie zu Hause fühlen können. Sie muß seine dritte Haut sein“(1996), können sich ohne Widerspruch alle Menschen und auch Architekten anschließen.
Ähnlich breite Zustimmung dürfte sein Postulat finden: „Wer die Vergangenheit nicht ehrt, verliert die Zukunft. Wer seine Wurzeln vernichtet, kann nicht wachsen“, denn so oder ähnlich fordern dies seit langem auch kluge Baumeister und Denkmalschützer. Dort allerdings, wo Hundertwasser die gerade Linie verdammt und seine Argumente nicht nur Streit suchen, sondern moralische Entrüstung und Arroganz spiegeln, da spaltet sich die Zustimmung zu dem Künstler, der in Umfragen auch als Deutschlands bekanntester Architekt gilt.


„Die gerade Linie ist ... unmoralisch. Die gerade Linie ist keine schöpferische, sondern eine reproduktive Linie. In ihr wohnt weniger Gott und menschlicher Geist als vielmehr die ... gehirnlose Massenameise“ (1958). Oder „jetzt haben wir das Glatte. Auf dem Glatten rutscht alles aus. Auch der liebe Gott fällt hin. Denn die gerade Linie ist gottlos... die gerade Linie ist ein Werkzeug des Teufels“ (1968).


Der Maler, der zum Architekten hochstilisiert wurde und mit seinen Argumenten abstrakte Architekturen wie die ägyptischen Pyramiden mit einem Halbsatz abtat, sah sich selbst als Behübscher. „Ich bin stolz darauf, dass ich ein Behübscher bin. Die ganze hässliche Welt... müsste behübscht werden“. Genau das tat er. Er dachte in farbigen Dekorationen, nicht in dreidimensionalen Räumen, wie ein guter Architekt dies tut. Konstruktives Denken war ihm fremd. Sein Thema waren die Oberflächen von Häusern, nicht was dahinter lag. Der amerikanische postmoderne Architekt Robert Venturi hätte Hundertwassers Bauten vermutlich als „dekorierte Schuppen“ bezeichnet. So nannte er jedenfalls die triviale Architektur von Las Vegas, deren Einheitlichkeit einmal zum indianischen Tempel und ein anderes Mal zum Schloß à la Versailles aufgehübscht wurde und nach wie vor wird.


Hundertwasser wird und wurde von vielen Fachleuten, auch wenn sie nicht  zu seinen leidenschaftlichen Verehrern gehören, akzeptiert und gelobt: als „Tausendsassa“ und „Muntermacher“ (Gustav Peichl), als begabter „Querdenker“ und ein „auf allen Hochzeiten tanzenden Derwisch“ (Wieland Schmied). Er nötigte vielen Respekt für sein Engagement ab. Wieland Schmied, sicher einer der besten Kenner des Künstlers, nennt ihn einen „Sonntagsarchitekten“ und meint dies absolut positiv. Die Bezeichnung spiegelt Hundertwassers Naivität, seine Spontaneität und sein der Natur nachgeahmtes Schöpferischsein. Franz Kafka hat einmal gesagt, dass es im Kampf mit der Welt gelte, dieser Welt zu assistieren. Genau hierfür stand Hundertwasser ein und verfolgte sein Leben lang zwei Fixpunkte „die Natur und das Kindsein, oder, anders gesagt, die Ökologie und das Märchen“ (Wieland Schmied).


Daß man die armen Bäume, denen er ein „Fensterrecht“ einräumte und sie in groteskem Winkel durch die Öffnungen nach aussen wachsen ließ, nur bedauern kann, steht dabei auf einem anderen Blatt. Architekten waren Hundertwassers Erzfeinde. In seinem „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ (1958,1964) beschimpfte er sie als erbärmliche Nichtskönner und Verbrecher und bedauerte die „Käfig“-bewohner moderner Architektur.
Seine Vorwürfe an die  Architekten und ihre Vorliebe für rationale, um nicht zu sagen neutrale Architekturgestaltung hat eine lange Vorgeschichte, deren Höhepunkt aber ohne Zweifel Hundertwassers Proteste der 6o und 7oiger Jahre bildete.
1928 sang man bereits in einer Berliner Revue:

„Fort mit Schnörkel, Stuck und Schaden!
Glatt baut man die Hausfassaden.
Nächstens baut man Häuser bloss,
ganz und gar fassadenlos.
Krempel sind wir überdrüssig,
viel zu viel ist überflüssig.
Fort die Möbel aus der Wohnung,
fort mit was nicht hingehört.
Ich behaupte ohne Schonung,
jeder Mensch, der da ist, stört!“
(Wasmuths Monatshefte für Baukunst 1928, S.374)

Solche Verzichtsarchitektur und ihre Schmucklosigkeit wurde in zahlreichen Manifesten der 2oiger Jahre gefordert. Architektur – so die Forderung vieler Architekten - sollte mit der Welt der Technik und Industrie harmonisieren. Sie sollte nach denselben Prinzipien wie ein Auto produziert werden. Beim Bauen ginge es darum, so Hermann Muthesius schon 19o3, „ungeschmückte Sachformen“ herzustellen. Der Architekt Le Corbusier träumte von Häusern ähnlich Schiffen und Flugzeugen.


Der Erfolg dieser sogenannten Moderne entsprach keineswegs der Vorstellung der meisten normalen Menschen, sondern war eine Sache der Avantgarde und weniger großstädtischer Intellektueller. Deren asketische Form des Wohnens und Repräsentierens und die Ablehnung jeder“ Gemütlichkeit“ sollte die Verachtung gegenüber breiten Schichten einer anders lebenden Bevölkerung ausdrücken. „So setzen wir uns unglaublich ab von den Habenichtsen, die auf dem Wege nach oben die Insignien der jeweils höheren Gesellschaftsschicht imitieren“ (Adolf Behne, 1931). Hundertwasser hätte  gegen solche Verächtlichkeit protestiert und sich schon 1931 auf die Seite eines Reporters geschlagen, der auf der Suche nach gebautem Seelentrost und lebendiger Gestaltung die Anarchie einer Schreberhaussiedlung bei Düsseldorf entdeckte: „Ich“, schreibt der Journalist, „ entdeckte tausend liebevolle Sächelchen, kleine Vorgärten mit Blumen, Loggien, eine winzige Hühnerfarm, blanken Hausrat, märchenhafte Fensterdekorationen. Manche Häuser sind mit verblüffender Phantasie erdacht, einige mit architektonischen, aus Abbruchstellen geborgenen Fragmenten– Renaissancesünden unserer baulustigen Väter – überladen. Das alles rührt an die Gesetze der Gaukunst“ (Kölnische Zeitung 9.8.1931). Nach den Gesetzen der Baukunst allein lässt sich eben keine Architektur erstellen, die vielen Menschen gefällt.


Der Erfolg der neutralen Moderne war recht eigentlich ein Erfolg im Nachhinein. Zwar wurde die radikal vereinfachte Gestaltung ohne ornamentale Details in den 2oiger Jahren erfunden und bereits beschimpft, fand  aber erst in den 5o und 6oiger Jahren zu einer wirklichen Verbreitung. Der Neuanfang nach den Zerstörungen des 2.Weltkrieges machte es möglich. Schon 1948 geißelte Hans Sedlmayr die kahle Nacktheit des Nachkriegsbaus, er sprach von der künstlerischen Fratze der Technokratie und einem falschen Pathos des Sachlichen. Aufgrund der Massenhaftigkeit ders neuen Bauens war Helmut Schelskys „Leitbild der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“, die Vorfabrikation, der Schlüssel „zur Machbarkeit menschlichen Glücks“. Er forderte für alle Hervorbringungen der Kultur Klarheit, Rationalität und Funktionalität. Auf solcher Basis entstanden die menschenverächtlichen Großsiedlungen der 6o und 7oiger Jahre. Ihre Monstrosität vor allem dürfte Hundertwasser vor Augen gehabt haben, als er seine leidenschaftliche Proteste formulierte. In der eintönigen „Glätte“, um mit Hundertwasser zu sprechen, dieser Siedlungen fanden selbst die Schwalben, die hier nisteten, nicht mehr zurück in ihr Nest, verirrten sich und begannen, an unterschiedlichen Stellen gleichzeitig zu bauen.


Die stereotype Wiederholung immer gleicher Fassaden führt nicht nur bei Tieren, sondern auch bei Menschen zur Orientierungslosigkeit. Nirgendwo in der Natur gibt es die Wiedererholung völlig identischer Merkmale wie im industriell bestimmten Milieu. Der Mensch, dessen Prägung bekanntlich noch steinzeitlich bestimmt und damit von einer Art Ur-Umgebung geprägt ist, in der es perfekte Geraden, exakt geometrische Zuschnitte und stereotypische Raster nicht gibt, verliert in der Umgebung immer gleicher Bauten seine Sicherheit und seine Identität. Bauherren, Architekten und die Baubürokratie brauchten Jahrzehnte, um ihren Irrtum zu begreifen. Hundertwassers Proteste haben dazu viel beigetragen.


Ein Großteil der Bevölkerung war von Anfang an auf Seiten seiner Kritik. Den meisten Menschen sprach der Künstler aus der Seele, denn sie lehnten wie er die moderne Architektur ab, wenn sie ausschließlich nackt, abstrakt, neutral, schmucklos, einheitlich und unfarbig daher kam. Der Biologe Bernd Lötsch, Direktor des Naturwissenschaftlichen Museums der Stadt Wien und ein Anhänger Hundertwassers, erklärt das so: „Der Mensch ist konstitutionell an ein reich strukturiertes Gelände mit vielfältiger Pflanzensehnsucht angepasst. Eibl-Eibesfeldt spricht 1985 sogar von ausgeprägter Phytophilie, der Pflanzensehnsucht des Menschen. Wo er kann, holt der Mensch Pflanzenformen in seinen Lebensraum, entweder als lebendiges Gewächs in der modernen Wohnhöhle oder – künstlerisch verschlüsselt –vom Akanthuskapitell korinthischer Säulen bis zum floralen Jugendstildekor. Erst der Funktionalismus verbannte die Pflanzenornamentik aus der Architektur und schuf damit unbewusste Mangelerlebnisse für das uralte Naturwesen Mensch“.


Dies dürfte nicht zuletzt einer der Gründe sein, warum die farbig bunten Häuser eines Friedensreich Hundertwassers einen solchen Anklang finden. Er baut Gehäuse für die  unterschwelligen Sehnsüchte der Menschen. Die meisten Menschen lieben seine märchenhaften Wohnschlösser und ornamentalen Traumwelten. Architekten lehnen sie als Kitsch ab. Es scheint offensichtlich, dass die Bilder von Hundertwassers Häusern die Sehnsucht nach einer heilen Welt und eventuell sogar die Sehnsucht nach der Kindheit beflügeln. Sie reflektieren die „heitere Erinnerung an Verlorenes“, an naive Unschuld und eine konflikt-und problemfreie Welt (Bernhard Schäfers). Die Idylle von Hundertwassers Bauten ist das, was viele Menschen in unserer unpersönlichen Welt brauchen. Sie sehen in seinen Häusern, die auch touristische Attraktionen sind, einen Halt, der ihnen hilft, sich der genormten Welt zu widersetzen.
Hundertwasser verspricht Sinnlichkeit für alle in seinen farbigen Umgebungen.


Aber diese Sinnlichkeit ist- leider - ein oberflächliches Versprechen. Hundertwassers Buntwelt suggeriert eine falsche Idylle, denn der Mensch bedient sich ihrer nur, um sich abzulenken. Er bewältigt in diesen Traumbauten die Welt nicht besser als in einer neutralen Architektur-Umgebung. Hundertwasser liefert gebaute Paradiese, zu denen Menschen nichts mehr dazu tun müssen, wie der Psychologe Micha Hilgers meint. In diesen Paradiesen könne der Mensch „einfach da sein, wohnen, leben, anstelle von funktionieren.“. Aber, so Hilgers, der „Garten Eden wird unendlich langweilig, wenn man ihn bereits besitzt und vor allem, wenn man ihn nicht beeinflussen und verlassen kann. So lange er von aussen bestaunt werden kann, übt er Faszination aus“. Oberflächlich gesehen mögen die Häuser Hundertwassers gebaute Sehnsüchte und Traumwelten sein und die Menschen, die darin wohnen, sich wohler fühlen als solche in langweiligen Häusern, aber  Scheidungen, Kindesmisshandlungen und Gewalt dürften hier ebenso häufig zu Hause sein wie in nüchternen Behausungen. Dennoch: Michael Landau, der Leiter des Martin Luther Gymnasiums in Wittenberg, sagte nach dem Umbau durch Hundertwasser: „Wir Lehrer lachen hier jetzt mehr als vor der Sanierung“.


Hundertwasser ließ zu Lebenszeiten nur wenige Architekten und ihre Bauten als „menschlich“ gelten, so z.B. die phantasievollen und schwingenden Häuser von Antonio Gaudi in Barcelona. Es wäre interessant zu erfahren, wie er heute über die dekonstruktivistischen, gekurvten Bauten eines Frank Gehry oder einer Zaha Hadid denkt, zu denen so viele Menschen pilgern.

Alle Autoren und ihre Zitate aus Friedensreich Hundertwasser, Ein Sonntagsarchitekt, gebaute Träume und Sehnsüchte, hrg.von Ingeborg Flagge,
Ausstellungskatalog des DAM 19.11.2oo5-5.2.2oo6.