Hauptstadt der Renaissance

Mit Florenz befreundet man sich nicht schnell. Die Stadt ist reserviert und biedert sich nicht an. Goethe fuhr deswegen schnell weiter. Charles Dickens sah sie voll „kleiner misstrauischer Fenster“. Den Eindruck eines „kampferprobten Mittelalters“, den die Schriftstellerin Fanny Lewald 1847 empfand, verdankt Florenz Prachtbauten wie dem Palazzo Vecchio, dem heutigen Rathaus, oder dem Bargello, erst Palast, dann Gefängnis, heute Kunstmuseum, die sich mit ihren  monumentalen, von Zinnen gekrönten Fassaden die mittelalterliche Prägung von Festungen erhalten haben. Die späteren Renaissancepaläste der vornehmen Familien nehmen mit ihren massigen Baukörpern aus wuchtigen Quadern diesen Charakter auf und säumen ernst und selbstbewußt die Strassen. Heiter wirkt die Stadt mit ihren Plätzen, Türmen und Kirchen nur von der hoch gelegenen Kirche San Miniato al Monte. Das Kleinod mit dem geheimnisvollen Innenraum und seiner aus weißem und grünem Marmor inkrustierten Fassade wurde 1075 begonnen und war Anregung für die Bauten Albertis und Brunelleschis.

Diese strenge Stadt war im 15.Jahrhundert, ihrem goldenen Zeitalter, mit fast hunderttausend Bewohnern zusammen mit Venedig die größte und reichste Stadt Europas und trieb mit aller Welt Handel. Der Florin war die Standardwährung der damaligen Welt.  Hier, in der 59 v. C. gegründeten römischen Kolonie mit dem bis heute schnurgerade und rechtwinklig verlaufenden Straßennetz, begann die Moderne. Viele von deren Errungenschaften, vom Bankenwesen mit Schecks und Wechseln über die Entdeckung der Naturwissenschaften bis zur Entfaltung des Individuums haben im Florenz der Renaissance ihre Wurzeln.

Ein breites Wissen, das nicht länger Geschenk der Offenbarung war, sondern als objektive Quelle angezapft werden konnte, war das Trachten der Zeit. Der erfinderische Leonardo da Vinci steht für das Beispiel eines genialen Humanisten. In ganz Europa sammelte der uomo universale, der allseits gebildete Mensch, alte Bücher und Handschriften mit dem Ziel, Erkenntnisse der Vergangenheit neu zu entdecken und zu bewahren. Vieles davon ist in der ersten öffentlichen Bibliothek der damaligen Welt, der Biblioteca Medicea-Laurenziana, die 1524 nach Plänen Michelangelos begonnen wurde, eindrucksvoll zu besichtigen. Die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg und seine rasche Verbreitung in ganz Europa förderte altes und neues Wissen und die Vernetzung aller gebildeten Geister der damaligen Zeit.  Der Wunsch nach mehr Wissen führt zur Entdeckung neuer Kontinente, aber auch zu einem zunächst heimlichen Sezieren des menschlichen Körpers, um dessen inneren Aufbau zu verstehen. 1474 wird die erste Weltkarte des Claudius Ptolemäus in Florenz gedruckt, natürlich mit der Abbildung der Kugelgestalt der Erde. Die Bankiers und Händler in Florenz demokratisierten die Mathematik, indem sie mit der Null rechneten, die Leonardo Fibonacci schon 1202 den Arabern abgeschaut und in seinem „Liber Abaci“ publiziert hatte. Die Kirche hatte dieses Buch lange mit dem Bann belegt, weil die Null, also das Nichts, als Teufelswerk galt.

Die Renaissance verstand sich als Neuanfang, als sei die Menschheit wie vom Tode auferstanden und entdecke die Schönheit des Lebens neu. Das Ende des Mittelalters war da und brachte eine umfassende kulturelle Neuorientierung mit sich; eine hoffnungsvolle Zukunft begann mit der Wiederentdeckung der Antike, ihrer Bauten, ihrer Kunst, ihrer Sprache. Allerdings bedurfte es Jahrzehnte des unermüdlichen Studiums eines Brunelleschi, ehe er die Baukunst der Römer wirklich verstand. Gute fünfzehn Jahre lang vertröstet er die städtischen Auftraggeber in Florenz ein um das andere Mal, weil er nicht weiß, wie er seine grandiose Domkuppel bauen soll. Nur hartnäckige Recherchen an der Kuppel des Pantheon in Rom bringen den Tüftler schließlich der Lösung nahe. „Baukunst“, schreibt Alberti über ihn , „ist nicht für jeden Kopf geeignet. Es sollte ein Mann von hohem Geiste sein, von großer Hingabe“. Was Brunelleschi als Architekt in Florenz war, war Michelangelo als Künstler. Als 15o6 die hellenistische Laokoongruppe gefunden wird, ist sie eine Sensation und die Sinnlichkeit der Plastik eine Herausforderung für alle Künstler, vor allem für Michelangelo. Sie verhilft ihm zu einer noch kraftvolleren Schönheit seiner Kunstwerke als zuvor.

Der Mensch der Renaissance entdeckt und sieht sich als Krönung der Schöpfung. Er lässt sich in seinem neuen Ichgefühl nicht mehr mit der Verheißung des Paradieses locken oder der Drohung der Hölle einschüchtern. Selbstbewußt ruht der nackte Adam im Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle des Vatikans und sieht dem heranbrausenden Gottvater gelassen entgegen. Die ausgestreckten Finger beider berühren sich fast, beide Gestalten sind ähnlich groß und auf gleicher Höhe. Noch hundert Jahre zuvor wäre dergleichen Darstellung unmöglich gewesen. Hätte sich dieses große Gemälde in Florenz befunden, hätte es der Sittenprediger Savonarola wie andere „Eitelkeiten“ in seinem Bildersturm zerstört. So immens war sein Einfluß und sein Kampf gegen Luxus inmitten des Wohllebens der Zeit, daß selbst ein Künstler wie Botticelli zur Buße zahlreiche seiner sinnenfreudigen Gemälde auf den öffentlichen Scheiterhaufen warf.

Die neue Perspektive des Menschen als Nabel der Welt  führt zu der Revolution einer neuen Sichtweise in Architektur und Malerei. Die Zentralperspektive wird geboren, die alle Fluchtlinien auf einen gemeinsamen Punkt hin versammelt. Für uns heute ist diese Darstellungsweise  selbstverständlich; das erste zentralperspektivische Bild in Florenz um 1427 war Masaccios Dreifaltigkeitsfresko, das in Santa Maria Novella hängt und bis heute bahnbrechend wirkt.

Für die Renaissancemenschen war Florenz der natürliche Mittelpunkt der Welt, nicht etwa Rom, das im 15. Jahrhundert noch ein Haufen Ruinen war. Die sparsame Schönheit der vielen neuen Bauten und die Förderung von Literatur und Kunst vor allem durch den Lorenzo Il Magnifico, der als Mitglied der Medicifamilie von 1469-92 die Geschicke der Stadt lenkte, macht Florenz zum Gesamtkunstwerk. Keine andere Stadt der damaligen Zeit zeigt das Selbstbewusstsein und stellt 1504 Michelangelos David, einen kolossalen nackten Jüngling als Symbol des Bürgerstolzes und der Republik vor seinem Rathaus auf.

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