Dieter Bartetzko

Ingeborg Flagge – Dame Courage der Architektur

Von Ägypten in den Dialog mit der eigenen Zeit: Um entschiedene Stellungnahme war sie nie verlegen

Gäbe es doch mehr ihrer Art im selbstverliebten Architektenzirkel: Als Ingeborg Flagge sich ihm zuwandte, hatte sie sich in der Welt und auf vielen Wissensgebieten umgetan. Zum Beispiel 1962 bis 1964 in Cambridge, wo sie Englisch studierte, dann an Kölns Staatlicher Dolmetscherschule. Als sie 1967 bis 1969 ans Londoner University College ging, hatte sie schon in Köln Kunstgeschichte, Philosophie und Geschichte studiert. Doch nicht nur das, auch Ägyptologie, Archäologie und – Sanskrit. Ob letzteres mit der damals unter Studenten verbreiteten Bewunderung für fernöstliche Weisheiten zusammenhing, sei dahingestellt. Es bezeugt jedenfalls die brennende Neugier auf die verschiedensten zeitgenössischen und historischen Kulturen.

1971 wurde Ingeborg Flagge Referentin für Öffentlichkeitsarbeit beim Bund Deutscher Architekten (BDA). Da hatte sie gerade im Fach Archäologie promoviert. Thema: die Bedeutung des Greifen im römischen Totenkult. Dass diese Frau, die sofort öffentlich Urteile über das zeitgenössische Bauen äußerte, Archäologin war, registrierten wenige Architekten. Doch dass sie von einer ganz und gar nicht konfliktscheuen Frau vertreten wurden, wussten sie bald. Zumal Ingeborg Flagge 1974 Chefredakteurin der BDA-Zeitschrift „Der Architekt“ wurde. Darin und in vielen Publikationen nahm sie Stellung – zum Bauen der Zeit, zum Denkmalschutz, zu Mut und Feigheit der Architekten, zum Versagen von Baudezernenten und Baubeamten.

Immer ergriff sie Partei (meist für die damals verrufene Moderne, wenn es angebracht war auch für den Formenreichtum postmodernen Bauens), und der BDA griff immer wieder nach ihr. Von 1978 bis 1983 war sie dessen Bundesgeschäftsführerin. Der Erfolg machte sie nicht fügsamer: 1998 verließ sie aus Protest gegen die  „mediokre von Rentabilitätszwängen geprägte Gegenwartsarchitektur“ den „Architekten“ und konzentrierte sich auf ihren Leipziger Lehrstuhl (1995 bis 2000)  für Baugeschichte und Baukultur – funkelnde Seminare über Baukunstepochen, Architekturtheorie und Architekturkritik. Im Juli 2000 trat Ingeborg Flagge das Amt an, das sie bundesweit und international bekannt machte: das der Direktorin des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt. Sie machte Furore, präsentierte bei stetig steigenden Besucherzahlen Klassiker wie Oscar Niemeyer oder Ernst May, riskierte eine Schau zur „Ostmoderne“, holte die Weltstars unter den Architekten zu Vorträgen, initiierte den Internationalen Hochhauspreis, wurde gelobt für ihre Kompetenz, gefeiert für ihren Charme – und allmählich gefürchtet für ihren Freimut. Ingeborg Flagge kritisierte die lokale wie die nationale Baupolitik, beklagte sich lautstark über die immer geringeren Etats – und trat 2005 aus Protest gegen Letzteres abrupt zurück. Niemand erwartete, dass sie nun still Ägyptens Tempel bestaunen oder in Indien meditieren würde. Zu Recht: „Architektur ist ein Dialog mit der eigenen Zeit“, schrieb sie vor einigen Monaten, um gleich darauf recht wütend zu fragen „Wo hat es in den letzten Jahre eine Architekturausstellung wie ,Profitopolis’ (1979) von Josef Lehmbruck gegeben?“ Heute wird Ingeborg Flagge siebzig Jahre alt.

DIETER BARTETZKO
Frankfurter Allgemeine Zeitung am 1. Oktober 2012