Oscar Niemeyer – Poet und Idealist

Ein neues Vorwort für die 2. Auflage des DAM Kataloges

Er wurde 104 Jahre alt und war schon zu Lebzeiten ein Mythos. Er hat so viel gebaut wie kein anderer Architekt der Moderne. Kaum jemand polarisierte so wie Oscar Niemeyers Persönlichkeit und sein Oeuvre. Als Kommunist war er ein politisch engagierter Architekten und wurde deshalb weltweit vielfach kritisiert. Dennoch ist er häufig ausgezeichnet worden und hat zahlreiche Anerkennungen und Preise erhalten, darunter 1988 den begehrten Pritzker Preis.

Oscar Niemeyer war Mitarbeiter von Le Corbusier, aber er ging in der skulpturalen Gestaltung seiner Bauten sehr viel weiter als dieser. Der reine Funktionalismus – form follows function – war für ihn immer zweifelhaft. Selbst dort wo er ein funktionales Raster anwandte, hat er nie bestritten, daß Architektur für ihn zuerst und vor allem eine plastische, expressive Kunst sei. "Architektur besteht aus Traum, Phantasie, Kurven und leerem Raum", so sein Credo.

Trotz seines politischen Engagements verstand Niemeyer den Architekten nicht als Sozialreformer. Architektur könne seiner Meinung nach eine Gesellschaft nicht grundsätzlich verändern. Es sei vielmehr die Aufgabe des Architekten, Werke von ebenso grosser Schönheit wie Ausdruckskraft zu schaffen – Niemeyer verstand sie vor allem im Baustoff Stahlbeton.

In Brasilia, seit 1987 Weltkulturerbe, gelang dem Architekten die seltene Tat, bis heute einprägsame architektonische Formen für die Repräsentation des Staates in der neuen Hauptstadt zu verwirklichen.
In Niemeyers Architektur für Brasilia verbindet sich einmalig und eindrucksvoll plastische Monumentalität mit klassischer Ordnung.

Dieses Buch kommentiert Oscar Niemeyer vor allem aus europäischer Sicht und enthält ein Verzeichnis seiner zahlreichen Bauten und Projekte. Es wird hier in einer zweiten, aktualisierten Ausgabe vorgelegt, und Biografie und Werkverzeichnis wurden hierfür überarbeitet und ergänzt.

Oscar Niemeyer starb am 5. Dezember 2012, bleibt aber auch für kommende Generationen von Architekten ein Vorbild. Sein Enthusiasmus, seine Vielfältigkeit und seine Originalität ließen die brasilianische Staatspräsidentin nach seinem Tode von "einem Genie einem Revolutionär und einem Visionär" sprechen. Das sind große Worte, die seine ebenso anmutige wie aufregende Architektur aber in jedem Bau bestätigen.

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