Jeder macht sich ein anderes Bild

Wahrnehmung und Identifikation

Als ich im Mai 2oo7, wenige Tage nach der Eröffnung der Bruder Klaus Kapelle von Peter Zumthor in der Eifel um einen Beitrag über sie gebeten wurde, gab es keine genaue Adresse und keine Webseite. Nach vergeblicher Suche landete ich an einem Taxistand in Bad Münstereifel und erklärte einem Taxifahrer meine Absicht, eine neue  Kapelle zu besuchen. Als der Mann hörte, was ich suchte, entgleisten seine Gesichtszüge. Wutentbrannt stürzte er aus seinem Auto und brüllte, ob ich noch zurechnungsfähig sei. Über ein solches Schandmal schreibe man nicht ; das sehe ja aus wie ein Bunker. Für so viel Hässlichkeit Geld auszugeben, gehöre verboten. Der Bauer, der dieses Unding finanziert habe, müsse bestraft werden. Schließlich jedoch fuhr er vor mir her zur Kapelle, ließ mich aber beim Bezahlen seine ganze Verachtung spüren.

Wahrnehmung erfolgt ungezielt und zufällig, doch so unterschiedliche Ergebnisse sie für jeden bedeutet, sie schafft Realität. Die meisten  Bewohner von Wachenberg, in dessen Nähe die Bruder Klaus Kapelle errichtet wurde, teilten die Meinung des Taxifahrers. Von Verschandelung der Landschaft durch die Kapelle war die Rede, auch von der Sünde des Hochmuts auf Seiten des Bauherrn. Ob es seither einen Lernprozeß auf Grund Zehntausender Besucher pro Jahr aus dem In- und Ausland und zahlreicher enthusiastischer Veröffentlichungen gegeben hat, ist mir nicht bekannt. Dennoch verspürt, wer in Wachendorf nach dem Weg fragt, der inzwischen gut ausgeschildert ist, eine kühle Zurückhaltung gegenüber der Kapelle.

Unser Hirn orientiert sich nicht daran, wie die Welt objektiv ist, sondern daran wie wir sie wahrnehmen. Die meisten Neugierigen sehen in dem fünfeckigen, blockhaften Monolithen von 12 Meter Höhe, der - aus sandfarbenem Stampfbeton - einsam inmitten grüner Felder aufragt, zunächst wirklich einen Fremdkörper. Doch der archaisch wirkende Innenraum, der wie eine natürliche Höhle wirkt und fast jeden Menschen ohne größere Erklärungen suggestiv anspricht , entlässt seine Besucher berührt und betroffen. Danach ist der  Baukörper aus grobem Beton, den der Freundeskreis des Bauherrn in Lagen von 5o cm gestampft hat, kein  Problem mehr.

„Was die Wahrnehmung zeigt, das glaubt das Herz,“ sagt  Seneca. Die kleine Kapelle findet trotz ihres zunächst befremdlichen Äußeren den emotionalen Zugang zum Herzen der Besucher. Sie können sich mit ihr identifizieren, weil Atmosphäre und Gestaltung stimmig ineinander greifen.

Die Wucht des Inneren, das aus 112 lokal geschlagenen Fichten zu einem zeltartigen Raum gefügt wurde, bevor er in Beton gegossen wurde, hat eine unmittelbare Wirkung. Man ist eingenommen und verzaubert. Die Bäume, die in einem drei Wochen kokelnden Feuer nach dem Willen des Architekten langsam verbrannten, haben ihre Form und rußigen Spuren an den Wänden hinterlassen. Das Dunkel des kleinen Raumes wird nur durch ein zum Himmel offenes Auge im Dach erhellt und von kleinen, mit Glas verfüllten Löchern im Beton. Das wenige Licht schimmert in einem flachen Wasserbecken am Fußboden und läßt das Zinkblei glänzen, aus dem er besteht. Auch die geschwätzigsten Besucher werden in diesem magischen Raum still.
Die Bruder Klaus Kapelle ist das, was die Wahrnehmungstheorie ein „Sehereignis“ nennt, sehen verstanden als schauen.

„Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in der Wahrnehmung wäre,“ schreibt Thomas von Aquin. Über unsere Sinne und die durch sie gewonnenen Eindrücke kommen Menschen zu Urteilen. Jemand, der mit dem Zollstock die Wohnung ausmißt, die er anmieten will, um so zu prüfen, ob es Platz für einige ererbte Möbel gibt, ahnt nicht, daß sein Unterbewusstsein blitzschnell bei Eintritt schon eine Entscheidung für oder gegen die Wohnung getroffen hat und daß das rationale Ausmessen diese nur nachvollzieht.

Wer einen Bau von Tadao Anno erlebt, der unterscheidet in seiner Wahrnehmung nicht wie bei Zumthors Kapelle zwischen Außen- und Innenraum. Eine solche Gegensätzlichkeit gibt es in seiner „einheitlichen, transzendenten Architektur“ nicht.  Vor allem jedoch liegt dies an Andos Konzeption von Raum. Dieser entsteht für ihn nicht, indem er ihn baut. Vielmehr formt er ihn im Eingrenzen und Begrenzen durch Mauern als Teil der Unendlichkeit des uns alle umgebenden leeren Raumes.

Das Betrachten von Tadao Andos Architektur ist bei fast jedem Betrachter ein sinnstiftendes Erlebnis. Es gibt kaum jemanden, der dem kraftvollen und gleichzeitig sensiblen Auftritt seiner Häuser widerstehen kann. Auch wer die sparsame Ästhetik von Andos Bauten oder seine   Grundrisse nicht versteht, den berührt die einprägsame Übereinstimmung von Funktion, Struktur und Material. „Zufluchtsorte für die Seele“ nennt Philip Jodidio Tadao Andos Bauten. Man fühlt sich von ihrer eleganten Schlichtheit und Harmonie eigentümlich angesprochen, ohne genau zu wissen warum.

Auch wer sich von Beton sonst nicht angezogen fühlt, empfindet Andos meisterhafte Beherrschung dieses Baumateriales körperhaft und  sinnlich. Ando liebt den Beton, auf dessen herausragende Qualität er größten Wert legt. Sein Beton fühlt sich glatt wie Seide an und sanft wie Wasser. Er atmet und lebt, und die grossen autonomen Betonflächen seiner Mauern und Häuser machen die lebendige Struktur und das Wesen des Materiales nachvollziehbar. Je nach dem Licht und seiner Farbigkeit wirkt eine nackte Betonwand einmal hart und flächig, dann  wieder plastisch-weich, federleicht und fast durchscheinend. Immer wieder beobachtet man, wie Besucher seine Wände anrühren und streicheln, als wollten sie mit den Fingerspitzen  den Beton begreifen.

Die Kirche über dem Wasser (1988) gehört zu der Gruppe christlicher Bauten, mit denen der Buddhist Ando weltweit bekannt wurde. Wer in der Einsamkeit der Insel Hokkaido diese Kirche besucht, spürt unmittelbar und mit allen Sinnen den sakralen Ort, der alle für den Architekten typischen Merkmale seines Bauens deutlich macht: die Dramatisierung von Architektur und Natur im Miteinander von Licht und Himmel, Wasser, das die exakte Härte der Mauern in der Spiegelung auflöst, wenn der Wind es kräuselt, ein geometrischer  Grundriss, der hier aus zwei sich überlagernden Quadraten besteht.

Der grosse Andachtsraum wird aus drei dicken Betonmauern gebildet, als müsse ein Feind draussen gehalten werden. Die vierte Seite allerdings ist aus Glas und läßt sich gänzlich zum See hin öffnen, auf den der Kirchenraum ausgerichtet ist. Aus dem Wasser ragt ein grosses stählernes Kreuz, das als Symbol wohl den Altar ersetzt.

Die Wucht seiner Wirkung ist spektakulär, vor allem wenn in den kalten Wintern der Insel hoher Schnee liegt, der zugefrorene See eine weisse Fläche aus Eis bildet und das Kreuz wie ein Zeichen der Hoffnung in der grau-weissen Weite steht. Egal welcher Religion man anhängt, die spirituelle Kraft dieses Ortes wird von jedem spürbar wahrgenommen.
Wie bei vielen anderen Bauten Andos wird auch hier der Innenraum zum Aussenraum und umgekehrt. Der Grund ist die Öffnung seiner Architektur zur Natur, aber auch, daß Raum bei ihm nie statisch ist, sondern in ständiger Bewegung. Raum ist auch Weg,  und erst im Durchschreiten begreift man ihn.

Ganz anders der Weg durch den 6,5m hohen Betonzylinder des Unesco Meditationsraumes (1995) in Paris, eines unbekannten Baus von Tadao Ando. Er ist  33m2 groß, hat keine Türen, nur zwei Öffnungen, und der Weg führt schnurgerade durch das Gebäude hindurch. Ein schmales Fenster erhellt den leeren Raum, in dem nur zwei Stühle stehen. Ein flaches Wasserbecken unterhalb der Eingangsrampe verströmt Ruhe. „ Die Verwendung von Wasser in meiner Architektur ist ein Versuch, eine spirituelle Dimension zum Ausdruck zu bringen“, so Ando.

Der winzige Bau in seiner kraftvollen Schlichtheit wird als Ruhepunkt in der heterogenen, beengten Umgebung der Unescobauten von Marcel Breuer, Pier Luigi Nervi und Isamu Noguchi wahrgenommen. Er schafft, so klein er ist, Ordnung an diesem Ort. Viele Unesco Angestellte nehmen täglich ihren Weg durch dieses Bauwerk, verweilen einen Moment und kommen ein wenig zur Ruhe.

aus: Betonprisma 99/2014