Haymatloz

Ein Film über das besondere Verhältnis von Türken und Deutschen zwischen 1933-1945

Dass andere Länder deutsche Worte in ihre Sprache übernehmen, ist vielfältig zu beobachten. Häufig ist allerdings kaum zu verstehen, warum ausgerechnet „Kindergarten“ ins Englische entlehnt wurde.Am Mangel einer eigenen, exakten Bezeichnung  kann es kaum liegen. Dass das Wort „Angst“, häufig auch „German Angst“, in die englische Sprache übernommen wurde, ist schon eher verständlich, wenn man sich die geradezu legendäre deutsche Kleinmütigkeit vorstellt und eine gewisse Furcht, sich häufig und offen zu freuen.
Dass das scheinbar urdeutsche Wort „heimatlos“ als „haymatlos“ seinen Weg ins Türkische fand und damit der Status von in die Türkei emigrierten Deutschen zwischen 1933-45 gemeint war,  dürfte allerdings vielen Menschen gänzlich neu sein und selbst wenigen Türken geläufig.

„Haymatlos“ ist ein 2014 gedrehter Film der Regisseurin Eren Önsöz. Ungefähr zehn Jahre lang hat sie sich mit dem Kapitel der zwischen 1933 und 1945 in die Türkei emigrierten, von Kemal Atatürk zum Aufbau der türkischen Universität eingeladenen deutschen Professoren meist jüdischer Herkunft beschäftigt und beschreibt damit in dem Film ein Stück deutsch-türkischer Migrationsgeschichte, das kaum jemand bekannt ist.

Kemal Atatürk wollte eine moderne Türkei und suchte für die Zukunft seines Volkes die beste Bildung. Dafür brauchte er geeignete Lehrer, die er im eigenen Land nicht fand. Also lud er zahlreiche Universitätsprofessoren, denen nach Hitlers Machtergreifung die Lehrstühle weggenommen wurden, ein, in die Türkei zu kommen. Diese Menschen, die in der Türkei eine neue Heimat fanden und die dadurch das 3.Reich überlebten, waren fast ausschließlich jüdischer Herkunft.

Der Film konzentriert sich auf den Pathologen Philipp Schwarz, den Chemiker Otto Gerngroß, den Botaniker Alfred Heilbronn, den Juristen und Rechtssoziologen Ernst E.Hirsch und Ernst Reuter, den Politiker. Ferner folgt der Film den Spuren des Bildhauers Rudolf Belling, der 1937 zu einem Vortrag in die Türkei reiste und bis 1968 blieb.
Der Film erzählt das Leben und die Aufbauarbeit der genannten Menschen. Ihre Nachkommen, die in der Türkei geboren wurden und zur Schule gingen, kommentieren vor Ort in teilweise anrührenden Bildern, was von dieser Arbeit heute übrig geblieben ist und welche Spuren ihre Eltern bzw. Großeltern in der heutigen Türkei und vor allem in der Hauptstadt Ankara hinterlassen haben. Ihre Kommentare zeigen, dass das fremde Land und die nicht vertraute Umgebung fast allen von ihnen - Exilanten wie auch ihren Nachkommen - Heimat wurde.

Heimat ist ein vielschichtiger Begriff, der für jeden eine andere Erfahrung bedeutet. Er entwickelt sich zudem ständig weiter. Heimat ist keineswegs immer ein Ort, sondern häufig vor allem ein Gefühl. Gerade für Verfolgte ist Heimat etwas, das für Sicherheit und Verlässlichkeit steht, auch wenn der Paß den Stempel „haymatloz“ trug, solange sie keine Türken geworden waren. Bei Flucht kann Heimat auch ein anderer Begriff für Vaterland werden.

Der Film beginnt wie eine Reklame für das Bauhaus. Überall eine Architektur des neuen Bauens, die in Deutschland 1933 zum Stillstand gekommen war.  Blonde Bubiköpfe und glückliche Menschen reisen in die Türkei, die Hoffnung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Die Anfänge einer Zusammenarbeit von Kemal Atatürk mit deutschen Architekten und Städtebauern liegen lange vor dem Exil jüdischer Wissenschaftler in die Türkei. Die nüchterne Architektursprache des neuen Bauens war in den Augen Kemal Atatürk der geeignete Ausdruck der gebauten Zukunft der Türkei, und so wurden seit Anfang der 20iger Jahre deutsche Architekten angeworben. Zunächst waren sie keineswegs vornehmlich jüdischer Herkunft, aber seit Anfang der 30iger Jahre kamen verstärkt Verfolgte des Naziregimes. Bruno Taut erreichte die Türkei 1936, nachdem die Sowjetunion keine Aufträge mehr für ihn und sein Team, zu dem auch Margarete Schütte-Lihotzky gehörte, hatte. Taut erhielt eine Professur an der Akademie der Künste und baute Schulen und Regierungsgebäude sowie Teile der Universität Ankara. Er starb 1938 über seinen Arbeiten am Katafalk Atatürks und erhielt - hochgeschätzt und verehrt - ein Staatsbegräbnis.

Sein erzkonservativer Kollege Paul Bonatz war von 1943-54 in der Türkei, auch er wie Taut kein Jude. Zwar war Bonatz ein Gegner des Neuen Bauens, aber seine gemässigt monumentale Architektur fand dennoch grosses Interesse in der Türkei. Auch Bonatz arbeitete als Professur an der Istanbuler Technischen Universität und zeichnete für die Staatsoper in Ankara verantwortlich. Doch 1954 kehrte er der Türkei den Rücken, weil ausländische Architekten nicht mehr ohne eine Partnerschaft mit einem einheimischen Baumeister bauen durften.
Derjenige Architekt, dessen Architektur wohl am stärksten Ankara prägte - der auch die meisten Bauten erstellte - war der Tiroler Clemens Holzmeister, der von 1938-50 in der Türkei weilte. Er gehörte zu der Gruppe jüdischer Architekten, die die Türkei vor den Nazis rettete.
Neben zahllosen Villen - auch der Stadtvilla Kemal Atatürks - entwarf er das Verteidigungsministerium in Ankara, den Obersten Gerichtshof und das Innenministerium.

Die genannten Architekten spielen im Film keine Rolle. Aber ihre Architektur bildet den Rahmen für die neue Heimat der Exilanten, die der Film behandelt. Ein sehenswertes Dokument einer Freundschaft  zwischen Deutschland und Türkei, vielleicht gerade in diesen Tagen, wo eine alte Beziehung kaputt zu gehen scheint.