Es passiert nicht oft, dass man auf einem Foto in der Zeitung oder einer Zeitschrift eine Person wieder erkennt, die man jahrelang nicht gesehen und von der man nichts gehört hat. Man hat sie nahezu vergessen. Auf einmal aber ist die Erinnerung wieder da, als sei alles erst gestern gewesen.
Bei mir war es kein Foto, sondern ein Name, der mich wie ein Blitz traf. Ich fuhr am Bonner Landesmuseum vorbei und las auf einer Litfaßsäule „Fotoausstellung Dirk Reinartz“. Ich erschrak geradezu vor der Fülle von Bildern und Gesprächsfetzen, die mich überfielen, und musste das Auto parken, um mich von diesem Überfall an Erinnerungen zu erholen. Dirk und ich hatten 1992 von der Lufthansa den Auftrag erhalten, für ein exklusives LH-Magazin eine Reportage über Architektur in Japan zu machen. Er sollte fotografieren, ich schreiben. Wir kannten einander nicht, hatten aber beide schon für die Lufthansa gearbeitet, und man sah uns als geeignetes Team an.
Fünf unterschiedliche Architekten sollten interviewt und ihr bester Baus besprochen und fotografiert werden. Die zentrale Figur, an der Qualität und Ästhetik gemessen werden sollten, war Tadao Ando, damals schon ein weltberühmter Superstar der Architektur. Dirk kannte Japan von anderen Aufträgen, ich war nie dort gewesen. Zudem ging ich an Krücken und war gerade nach einem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt ins Normalleben entlassen worden aber keineswegs völlig gesund. Ein Geisterfahrer hatte meinen Partner und mich nachts bei 120 Stundenkilometern auf der Autobahn Kiel – Hamburg frontal erwischt, aber wir waren dem Tod gottseidank von der Schippe gesprungen.
Dirk war nicht sehr glücklich über diese Gegebenheit, aber wir wollten beide diese Reportage machen. Er nahm mich wie ein Krankenpfleger unter seine Fittiche, half mir über Straßen und Treppen und trug mein Gepäck. Wir verstanden uns vom ersten Moment an. Ich kannte Dirks Arbeiten nicht, aber gewann erste Eindrücke während seines Fotografierens bei den Interviews. Der große Mann war sehr ruhig und ließ sich von den Diven der Architektur nicht nervös machen. Er verschwand buchstäblich hinter seiner Kamera, während ich die Architekten befragte. Auch japanische Baumeister sind sich ihrer Person sehr bewusst und setzen sich gern in Positur. Dirk aber gelang es, dass sie ihn völlig vergaßen.
Bei den Bauten vermittelte er den Eindruck, als sei er ein versierter Architekturfotograf. Er erfasste blitzschnell die Besonderheiten eines Baus und verstand, sie in gute Bilder umzusetzen. Die Reise war für uns beide ein schönes Erlebnis und machte uns beiden Spaß. Die Reportage wurde allgemein gelobt. Danach sahen wir uns lange nicht mehr: Wir trafen uns erst 1994 wieder bei der Eröffnung seiner Ausstellung „totenstill“, die er über deutsche Konzentrationslager gemacht hatte. Selten hat mich eine Ausstellung so beeindruckt, ja regelrecht mitgenommen. Sieben Jahre hat Dirk Reinartz an diesem Thema gearbeitet und versucht, die Schrecken dieser Orte fünfzig Jahre nach ihrer Einrichtung nachzuvollziehen.
Den nüchternen, menschenleeren Schwarzweißaufnahmen gelingt es geradezu bestürzend, den Terror und das Grauen dieser Lager wiederzugeben. Ich brauchte Wochen, um mich von der Resonanz dieser Bilder in mir selbst zu befreien. 2004 erhielt ich die Nachricht von Dirk Reinartz plötzlichem Tod. Die Bonner Ausstellung ist die größte Fotoausstellung eines einzigen Künstlers, die ich je gesehen habe. Sie ist ein beredtes Zeugnis für den Fleiß, die Vielfalt und die unterschiedlichen Themen, denen sich Dirk Reinartz gewidmet hat. Die düsteren Fotos von „totenstill“ werden in einem eigenen Raum gezeigt.
Dirk Reinartz stammte aus Aachen, wo er 1947 geboren wurde. Er studierte Fotografie an der Folkwangschule in Essen, machte aber keinen Abschluss, weil sein Lehrer ihm Fleiß und Begabung absprach und ihn zum Verlassen der Schule aufforderte. Soweit zur Intelligenz und Sensibilität von Professoren. Reinartz machte sich selbständig und arbeitete als Fotoreporter für den Stern und das ZEIT-Magazin. Er war kein Fotograf für Schnappschüsse oder gestellte Aufnahmen. Er fotografierte, was ist. Genauso ist der Titel der Bonner Ausstellung.
Reinartz erarbeitete inhaltliche Ziele für seine Reportagen und suchte dann in der Realität nach Motiven, die diese Ziele „rüberbringen“ konnten. Schon früh interessierten ihn der Nationalismus und Themen von Macht und Ohnmacht, er erkundete Fragen der deutschen Identität und suchte Motive, wie sich die Spuren der deutschen Vergangenheit in der Gegenwart fortsetzten. Nach zahlreichen Fotoreisen um die Welt begriff er, dass die besten Fotos nicht in der exotischen Ferne, sondern oft vor Ort zu finden sind. Die von ihm fotografierten Menschen machen häufig deutlicher als erzählte Geschichten, was diese Personen denken und wofür sie stehen.
Fast alle Themen von Dirk Reinartz sind politischer Natur, so „Der irische Irrsinn“, Szenen aus dem irischen Bürgerkrieg. „Kein schöner Land“ zeigt die sozialen Brüche nach der Vereinigung Deutschlands, „Das stille Ende“ 1982 das Zonenrandgebiet noch zwischen den beiden Teilen Deutschlands. In der „Deutschstunde bei Gauck“ gelingt ihm das fotografische Porträt einer Behörde mit 3100 Angestellten, 180 km Aktenregalen und 35 Mio. Ton- und Bildträgern. Eine Momentaufnahme ist die Serie „Warteschleife“, wo in den ersten Tagen nach dem Fall der Mauer von einem öffentlichen Telefon an der Glienickerbrücke in Berlin alle möglichen Personen, die kein eigenes Telefon hatten, Freunde und Bekannte anrufen, um sich zu verabreden.
Dirk Reinartz Fotos verraten Offenheit und Neugierde, aber auch eine große Empathie. Meist sind es lakonische Aufnahmen, keine dramatischen Geschichten. Diese Einstellung machte ihn zu einem guten Partner von Künstlern wie z.B. dem weltberühmten Richard Serra mit seinen gigantischen ruhigen Eisenskulpturen. Mit ihm arbeitete er lange zusammen. Die Ausstellung hat mich darüber belehrt, dass Dirk Reinartz wohl einer der besten Fotografen Deutschlands war und ich von dieser Qualität keine Ahnung hatte, als ich mit ihm vor 32 Jahren in Japan war.
Die Ausstellung läuft noch bis zum 15.September