Heimat in mir selbst

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Die Bandbreite der Bedeutungen von Heimat reicht von Orten oder Landschaften, wo man geboren wurde oder lange gelebt hat, über Gegenden, wo man dieselbe Sprache wie seine Mitmenschen spricht, sich zugehörig fühlt und nicht infrage gestellt wird, bis hin zu Umgebungen, in denen man sich sicher fühlt. Für einige Menschen ist Heimat dort, wo es ihnen gut geht, also „ubi bene, ibi patria“, für andere  schlicht da, wo ihre Zahnbürste steht.

Für viele bedeutet Heimat aber auch einen Nichtort, ein vages Gefühl, eine Hoffnung oder Sehnsucht nach so etwas wie heiler Welt. Für den langjährigen Chefredakteur der „Bauwelt“, Ulrich Conrads, war Heimat „Spielraum für Leben“, ein  Ort, wo ein unabhängiges und vielfältiges Leben möglich ist. Der Kunstkritiker Daniel Schreiber nennt Heimat altmodisch und „einen irrealen Sehnsuchtsort, einen Knotenpunkt von Nostalgie, weichgewaschenen Erinnerungen und unerfüllbaren Wünschen.“

Heimat wird vielen Menschen geschenkt, man muß sie sich gewöhnlich nicht verdienen. Für andere entsteht Heimat, wenn sie die Fähigkeiten entwickeln, sich dort wohl zu fühlen, wo sie gerade leben. Wer das nicht lernt, ist nie und nirgendwo daheim. Über Heimat denkt man gewöhnlich aber erst nach, wenn man glaubt, sie verloren zu haben. In der Tat kann Heimat aus vielen Gründen verloren gehen, wie die Millionen Flüchtlinge in aller Welt beweisen. Man kann sie aber auch neu gewinnen. Der Begriff sich „beheimaten“ beschreibt die Aneignung einer neuen Heimat.

Die Diskussion von Heimat boomt unter politischen und sozialen Aspekten. Selbst die Tourismusindustrie scheut nicht davor zurück, den Begriff „Seelenheimat“ für intakte Alpenorte zu verwenden „wo man die Seele baumeln lassen kann.“  Einkaufstüten tragen das Label “Heimat shoppen“ als Hinweis darauf, daß man lokal kaufen soll. Das wachsende Interesse an Heimat erklären Psychologen als eine Reaktion auf die „Uferlosigkeit einer globalisierten Gesellschaft,“ in der „Mobilität längst nicht mehr ein Ausdruck von persönlicher Freiheit ist“ (Beate Mitzcherlich).

Assoziationen zu Heimat: z.B. Wohnen

Zuhause, Daheim, Heim - viele Begriffe werden mit Heimat gleichgesetzt, bedeuten aber ganz Unterschiedliches. Sichverorten und Wohnen beschreiben eher den Prozess der Suche nach Heimat. Alle Bezeichnungen aber fragen nach dem Ort der Heimkehr, weil erst von hier sich der Mensch eine lebensnotwendige Beziehung zur Welt aufbaut. Sie ist wichtig für die Entwicklung eines Gefühls des Hierher- und Dazugehörens.

Wohnen und Bleiben sind wohl von allen die grundlegendsten Begriffe. So hat  Bleiben für Martin Heidegger eine zutiefst existentielle Bedeutung, die er auch dem Wohnen zumisst. Ähnlicher Meinung ist der Medienphilosoph Vilém Flusser, wenn er behauptet, dass Wohnen allen Menschen eigen sei und insofern bei sich sein bedeute. Er wird noch präziser, wenn er in seinen Ausführungen über das Sichverorten des Menschen feststellt: „Ohne Wohnung wäre ich unbewusst, und das heißt, dass ich ohne Wohnung nicht eigentlich wäre.“ Am eindringlichsten formuliert es der chinesische Philosoph Laotse: „Die Realität eines Raumes besteht nicht aus Mauern und Dach, sondern aus dem inneren Raum, in dem man leben muss“. Wer in sich ruht, wer bei sich ist, den trifft der Verlust von Heimat zwar auch schwer, aber er erkennt nach einiger Zeit, dass man als Mensch immer auf dem Heimweg ist, Heimat also eine lebenslange Identitätssuche und -entwicklung ist.

Die Unversehrtheit der Wohnung bedeutet die Sicherheit des eigenen Selbst. Wohnen hat viel mit Überleben zur tun, und dieser Freiraum muss vor den negativen Einflüssen der Welt verteidigt werden. Das Schneckenhaus ist die vielleicht engste Einheit aus Wohnung und Bewohner, denn es wächst direkt aus dem Leib der Schnecke. Eine so perfekte Einheit können Mensch und Umgebung nicht bilden.

Ähnlich wie Tiere definieren auch Menschen ihren Körper als Haus oder Wohnung. Die Psychologie von Sigmund Freud und CG.Jung lehrt uns, dass wer sich im Traum in einem Haus bewegt, sein Inneres erfährt. Was im Traumhaus passiert geschieht in uns selbst. Unser Körper ist das Haus, und dieses Gleichnis gibt Auskunft darüber, wie wir innen und außen beschaffen sind. Der Keller ist der Ort, wo Vorräte zum Überleben aufbewahrt werden. Gleichzeitig ist er der dunkle Teil unserer Persönlichkeit, der uns Angst macht. Die Küche gilt als Ort eines alchimistischen Verwandlungsprozesses, wo die Speisen für unseren Körper hergestellt werden, von denen er lebt. Das Klo ist der Raum, wo der Körper Ballast abgibt, sich reinigt und die innere Ordnung wieder herstellt. Der Dachraum liefert Informationen darüber, wie es mit unserem Kopf steht und was darin herumgeistert. Wer folglich in seinem Haus, sprich: in seinem Körper Ordnung hält, der wohnt und lebt gut in und mit sich. Heimat könnte dafür eine Bezeichnung sein.

Gestaltung und Wohlfühlen
Heim und Zuhause haben viel mit der Gestaltung der gebauten Umwelt zu tun. Nicht nur ist „Architektur ein Produktionsversuch menschlicher Heimat“ ( Ernst   Bloch), das gebaute Haus kompensiert als gesicherter Ort auch die psychische Verletzbarkeit des Menschen. Peter Sloterdijk fordert gar, dass jeder Mensch in seiner Wohnung eine Art „Welteninsel“ erfahren kann, also die Präsenz der Welt an einem Ort und zu einer von ihm selbstbestimmten Zeit erlebt. Das nennt er Heimat.

Menschen nennen Orte ein Zuhause, wenn das Äußere ihren Vorstellungen entspricht und ihre Zufriedenheit verstärkt. Wir erwarten von Gebäuden, dass sie uns eine hilfreiche Vision unserer selbst vor Augen führen. Gaston Bachelard nennt es in seiner „Poetik des Raumes“ so: „Unsere Interieurs sind eine der großen Integrationsmaschinen für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen“. Dennoch bleibt es „eine Kunst, daheim zu Hause zu sein,“ wie der Untertitel des Buches „Architektur und Glück“ von Alain de Botton lautet. Nur jemand, der sich mit viel Zeit, Geduld und Neugierde darauf einlässt, kann diese Kunst erlernen und folglich „zu sich finden“ (Daniel Schreiber).

Eine Architektur, die dem Menschen Heimat und Zuhause anbietet, muss eine bergende Atmosphäre haben. Sie muss sich um den Menschen bemühen und ihm keine Einheitsgestaltung aufzwingen wollen. Ein Architekt mag sich an der Abstraktheit einer schönen Wand erbauen, der normale Mensch kann das nicht. Er will aber auch keine gebauten Sensationen, die sich als Erlebnis schnell erschöpfen und nur als Ausnahme gut sind, nicht  als Regel.

Gute Räume als Häuser oder Stadtviertel sind geprägt von Freiheit und Vielfalt. Sie lassen die Seele atmen. Eine gelassene, undramatische Alltagsarchitektur macht zufriedener, vielleicht sogar glücklicher als gebaute Extravaganz.  Die katalanischen Architekten RCR haben dafür ein einfaches Rezept, das aber nur wenige Architekten beherrschen: „Wer so baut, wie er fühlt, wird überall verstanden.“ Das Resultat solchen Bauens ist ein sinnstiftendes Erleben, das der Mensch in Bruchteilen von Sekunden erspürt und versteht, auch wenn er es rational  nicht erklären kann.

Gebaute Heimat hat mit Anschauungsreichtum und Vielgestaltigkeit zu tun. Ein Haus, eine Wohnung, eine Umgebung, die dies bietet, hat einen größeren identitätsstiftenden Stellenwert als ein Ort, der einfalls- und phantasielos ist. Vielleicht ist „Glück“ als  Bezeichnung für Geborgenheit in Architektur zu hoch gegriffen, Zufriedenheit trifft es besser.

Identität ist wie Heimat ein vielschichtiger Begriff. In Bezug auf Heimat meint Identität die Übereinstimmung der Kenntnisse und Werte eines Menschen mit seiner Umgebung, das sichere Gefühl, am richtigen Ort angekommen zu sein. Identität hat viel mit Selbstverständlichkeit zu tun.
Peter Zumthor fand dafür eine plausible Erklärung: „Identifikation findet bekanntlich dort mit einem Objekt statt, sei es ein Bau oder ein Teil der Stadt, wo etwas so charakteristisch ist, dass es Eigenart hat, und so grundsätzlich, dass es scheinbar gar nicht anders sei kann“. Wenn wir diese Identität spüren, sind wir bei uns.

aus: betonprisma 105/2017/20ff.