Gedanken zur Einfachheit

Zum Tode von Joachim Schürmann

Am 8.Dezember ist der Architekt Joachim Schürmann in Köln gestorben. Er wurde 96 Jahre alt.

Schürmann studierte an der TU Darmstadt, wo er seiner Frau Margot, die ebenfalls Architektur studierte, begegnete. Sie heirateten 1950 und gründeten in Köln das Architekturbüro Schürmann. 1970 nannten sie das Büro um in Schürmann und Partner und leiteten es zusammen bis zu ihrem Tod 1998. Die vier gemeinsamen Kinder folgten dem Beispiel der Eltern und wurden ebenfalls Architekten. 

Das Büro Schürmann hat Köln geprägt und umgekehrt. Der Wiederaufbau und Ausbau von Groß St. Martin in der Kölner Altstadt ist eines der faszinierendsten Beispiele romanischer Architektur, in der Neu und Alt zu einer überzeugenden Symbiose zusammen fanden.

Die Merkmale der Architektur des Büros Schürmann sind Leichtigkeit und Einfachheit, die mit den Jahren ihre Bauten immer filigraner   erscheinen ließen. Deshalb gestatte ich mir im Andenken an Joachim Schürmann und Margot Schürmann an dieser Stelle noch einmal die Wiederholung meiner leicht gekürzten Gedanken zum Thema „Einfachheit“, wie ich sie als Herausgeberin des Buches „Schürmann“ 1997 formuliert habe. Alle dort angesprochenen Aspekte finden sich in der Architektur des Büros Schürmann wieder.

Eine Einfachheit der Architektur kennzeichnet schon die frühen Bauten Joachim und Margot Schürmanns. Der spröde Schrein z. B. der Kirche Christkönig in Wuppertal macht deutlich, worum es schon in der unmittelbaren Zeit des Wiederaufbaus ging: das Aufwändige wurde als unangemessen angesehen. Die Prinzipien, denen die Architekten folgten, waren Kargheit, Schlichtheit und Reduziertheit. Die Architektur sollte der geistigen und materiellen Not der Zeit entsprechend asketisch sein, zunächst fast improvisierend in der Wahl und der Verwendung einfachster Materialien, bescheiden im formalen und stadträumlichen Anspruch, gleichwohl von hoher handwerklicher, vor allem aber ästhetischer Qualität. Es war die Zeit, die aus der damaligen materiellen Not eine Tugend für die Architektur zu machen verstand. Und obwohl Anfang der 1960er Jahre von dieser Haltung in der Architekturszene kaum noch etwas übrig war, lebte sie in den Bauten einiger Architekten und nicht zuletzt im Büro Schürmann fort.

Dem Prinzip der Baukunst mit einfachen Mitteln sind Joachim und Margot Schürmann bis heute treu geblieben. Der überwältigende Innenraum von Groß St. Martin ist dafür der beste Beweis. Die lichte, fast schwebende Atmosphäre dieses Raumes ist von der Poesie franziskanischer Einfachheit. Hier herrscht diejenige Baukunst, die Romano Guardini in seinem Aufsatz „Vom Wesen des Kunstwerkes“ meinte: … „ein geformter, von Sinngehalten erfüllter Raum, in den man schauend, hörend, sich bewegend eintreten kann. Dieser Raum ist anders gebaut als jener der unmittelbaren Wirklichkeit. Er ist nicht nur richtiger, schöner, tiefer, lebendiger als jener des täglichen Daseins, sondern hat eine eigene Qualität. Ding und Mensch in ihm sind offen.“

Wer diesen schönen Raum in seiner zarten Helligkeit betritt, den manche Kritiker als „funktionsfähigen Rohbau“ abtaten, der versteht, warum er „gegen die zunehmende Neigung zum Bunten, Schmückenden und Historisierenden“ (Wolfgang Pehnt) verteidigt werden musste. Der bis in das letzte Detail seiner Einrichtung durchdachte, intensiv einfache Raum gehört zu den großen Architekturschöpfungen Deutschlands.
Sein Erscheinungsbild aus Material, Struktur und Technik erschöpft sich nicht im bloß Sichtbaren sondern bedeutet im Sinne Hans Busso von Busses: „Schönheit vermag unsere Sinne und Empfindungen in ein Wahrnehmen und Erkennen zu heben. Diese Schönheit lässt uns mehr wahrnehmen, als wir sehen. In welcher der Künste die Schönheit uns auch erfasst, ob in Dichtung oder Musik, ob in den bildenden Künsten oder in der Architektur, ob sie erhebt, erhellt oder einfordert, die Schönheit vermag Einsicht, Staunen und Ergriffenheit zu wecken, sie vermag Ahnungen davon in uns frei zu setzen, was wahr, was gültig, was von Dauer sein kann in diesem Dasein“.

Der japanische Haiku ist ein minimalistisches Gedicht und die knappste Form der Poesie, die es gibt. Seine drei Zeilen zu je fünf, sieben und wieder fünf Silben bilden das vorgegebene Gerüst, dessen wenige Worte Bilder von großer Eindringlichkeit beschwören. Der fast lakonische Reiz des Haikus, sein Zauber, liegt in der Konzentration auf das Wesentliche eines Gedankens. Alles, was die Essenz einer Vorstellung stört, wird weggelassen. Die Wahrheit eines Bildes ist sparsamer als in den kargen Worten eines Haikus kaum auszudrücken, und dennoch gelingen Verse von ebenso großer Eindringlichkeit wie eleganter Anmut und kraftvoller Schönheit.

Wie der Haiku  so lebt auch die traditionelle japanische Architektur von der ästhetischen Idee des Verzichtes auf jedes schmückende Beiwerk und von der Konzentration auf das eigentlich Wesentliche. Das auf Verinnerlichung und Vergeistigung gerichtete Stilbewusstsein strebte  nach Befreiung von allem Überflüssigen und nach Abstraktion. Vollkommenheit war das nicht weiter zu reduzierende Einfache. Ähnlich dachten die amerikanischen Shaker. Ihre Kriterien der Beurteilung von Gegenständen des täglichen Lebens waren die gleichen, nach denen sie ihr gläubiges Dasein ausrichteten: Reinheit, Einfachheit, Einheit. Jeder Gegenstand musste so gestaltet sein, dass Sinn und Zweck erfüllt waren und sich einfügten in die Ordnung der Einheit der Dinge. Überflüssiges stand im Gegensatz zu Vollkommenheit. Die Konsequenz : die alte Architektur Japans und die Gebrauchsgegenstände der Shaker sind schmucklos in des Wortes wahrer Bedeutung, aber von selbstverständlicher Anmut und Ruhe. Sie verstehen sich aus sich selbst heraus. Ihre Einfachheit ist das Ergebnis eines ständigen Reduktionsprozesses, an dessen Ende eine fast zeitlose Schönheit steht.

Es gibt Wahrheiten, die nicht veralten und Erkenntnisse, die bei aller Relativierung unseres Lebens  richtig bleiben. Dass „Weniger mehr ist“ scheint abgenutzt, aber die Idee bleibt dennoch richtig.
Wenn also hier dem Einfachen das Wort geredet wird, so geht es nicht darum, dem Nutzer vorzuschreiben, daß er in der Monotonie ästhetische Qualitäten erblicken möge... Es geht auch nicht um Anspruchslosigkeit, sondern um eine bewusst geübte und verinnerlichte Haltung.

Wilhelm Kücker, der frühere BDA Präsident, nannte diese Einstellung die Tugend der Ungezwungenheit, die aus der Unabhängigkeit des Menschen von Beiwerk und Äußerlichkeiten entstehe, die das Leben und die Architektur angeblich verschönern. Je entwickelter  und reifer ein Architekt sei, umso freier sei er und mache er sich von den Zu- und Anmutungen von Umwelt und Umständen unabhängig. „Nichts aber scheint schwieriger, als zu dieser selbstverständlichen Einfachheit zu finden…“ Angemessenheit ist vielleicht der bessere Begriff für das, was not tut in der Architektur. Die Goethezeit sprach vom Schicklichen. Das ist das Vernünftige, aber auch die Gelassenheit im Wahrnehmen dessen was ist und bedeutet das Erkennen des im wirklichen Sinne Notwendigen und der Befreiung von Überflüssigem. Einfachheit ist der Weg der Annäherung an das Ziel, zum Wesentlichen vorzustoßen. Auch Selbstverständlichkeit ist eine hilfreiche Bezeichnung. Selbstverständlich ist, was sich aus sich selbst heraus erklärt.

Man geht nicht selten mit der Vokabel der Einfachheit hausieren. Vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit, Unglaubwürdigkeit der Politik, knapper Ressourcen und anderer Merkmale des Endes unserer Wohlstands- und Überflussgesellschaft bedeutet Einfachheit Zivilisationskritik. In einer zunehmend komplexeren Welt, deren Strukturen nicht mehr nachvollziehbar und damit undurchschaubar geworden sind, soll Einfachheit Durchblick versprechen. Friedjof Capra forderte schon früh „ein neues Ethos der Einfachheit, des menschlichen Maßes, der ganzheitlichen Anschauungsweise“.„Schön einfach ist einfach schön,“ so der Aufkleber in einem Stuttgarter Laden, den Arno Lederer fand. Diese scheinbar eingängige Formulierung ist so nichts als eine Floskel, und ihr Sinn verkommt zu einer oberflächlichen Redensart.

Viele Architekten, bei denen Einfachheit Hochkonjunktur hat, wollen glauben machen, sie hätten für sich das calvinistische Ideal neu entdeckt. Nicht selten nennen sie die höchst einfachen Häuser, die dabei herausgekommen sind, rational und ehrlich. „Schön wäre es, wenn die Einfachheit wahr wäre“, schreibt Arno Lederer. In den meisten Fällen ist sie es nicht. Denn den Architekten geht es meist nicht um eine Haltung, die das Ergebnis eines Entwicklungs- und Reifeprozesses ist. Vielmehr geht es ihnen um eine schlichte Form, nachdem die Vielfältigkeit der Architektur schwatzhaft geworden ist und nicht mehr überzeugt Hier aber wird Banalität mit Einfachheit verwechselt und Einfachheit wird zum Schein.

Das Einfache aber ist stets durchdacht. Und es ist keinesfalls das einfach zu bauende. Denn Einfachheit ist eine Essenz. „Gebt mir einen Backstein, und ich werde ihn vergolden“, sagte Alvar Aalto einmal. Besser lässt sich Reichtum in der Einfachheit nicht beschreiben.
Die scheinbar einfache  Architektur eines Heinz Bienefeld ist nicht eine der natürlichen, sondern eine der artifiziellen Art. Sie ist gleichzeitig Wert und Programm, ein Programm der Harmonie und Balance, „scharf durchdacht, präzise reduziert, aber eben so, dass das Auge immer noch etwas zu sehen bekommt (Werner Strodthoff). „Ruhe, Gelassenheit, Heiterkeit und Großzügigkeit sind seit jeher die Eigenschaften eines Hauses“, so Heinz Bienefeld selbst.

Denn es ist ein Irrtum zu glauben, dass Einfachheit in der Architektur etwas mit Gleichförmigkeit zu tun hat. Einfachheit im Bauen ist nicht ärmlich. Es ist vielmehr ein Reichtum an Nuancen, die feine Abstimmung von Schattierungen, die sichere Balance von Raum, Licht und Material. Sie ist von ausgewogener Ruhe, aber nicht langweilig, sie ist von zurückhaltender Emotion, aber nicht unlebendig. Es haftet ihr nichts Modisches oder Pittoreskes an. Das Laute ist nicht ihre Sache, dafür aber das Unmerkliche, das Sublime.

Einfachheit in der  Architektur ist sinnlich erlebbar für den, der die laute Ansprache ebenso wenig braucht wie die große formale Geste. Einfachheit hat mir Klarheit zu tun, mit Verzicht auf Täuschung und Vortäuschung. Schon bei August von Platen heißt es in seinen Gesammelten Werken: „Bunt Aneinandergereihtes ergötzt zwar, doch es ermüdet bald. Einfaches erquickt ewig das Auge des Geistes.“
Einfachheit in der Architektur lebt von Zwischentönen, von der vorsichtigen bildhaften Wirkung, vom sanften Übergang der Farben, von der feinen Abstufung der Materialien und Oberflächen. Eine einfache Architektur in diesem Sinn lebt am Rande der Stille.

Alles dies trifft auf die Architektur der Schürmanns zu. Nicht zuletzt auch der Ausspruch Josef Brodsky: „Es ist eine Tugend, sich an seinem Gefühlsleben nicht allzu gütlich zu tun.“ Denn – so Joachim Schürmann – „Architektur ist in der Regel ein nüchternes Geschäft, das Stille braucht, das geduldige Bohren dicker Bretter, die Liebe zum Schwarzbrot“.

Joachim Schürmann bezieht sich an anderer Stelle auf Theodor Adorno und dessen Hinweis, daß Architektur nicht primär das Feld für subjektive Impressionen sei, sondern besetzt sei von der Funktion für das Subjekt. Er sagt: „Der Architekt ist kein Schöpfer, der Welten aus dem Nichts erbaut; kein Demiurg, wie Platon den Bildner der Welt aus der Urmaterie nennt. Auftrag, Wirkung und Verantwortung sind unmittelbar auf die Gesellschaft, in der wir leben, bezogen und zielen auf die Gesellschaft von morgen“. In der Tatsache, dass Architektur immer mit dem Menschen zu tun hat, sieht er „das Erregende und das Glückhafte unseres Berufes, auch das Strapaziöse, auch seine Begeisterung und Bescheidung“.

Einfachheit in der Architektur bedeutet auch Abstraktion in dem Sinne, dass alles Zufällige und Unwesentliche, das den Kern einer Architekturaussage verunklart, ausgesondert und weg gelassen wird. So tritt das Persönliche und Individuelle zugunsten des Allgemeinen zurück. Damit ist nicht die Aufgabe einer persönlichen Handschrift gemeint, sondern ganz konkret die Zurückhaltung gegenüber  dem, was Italo Calvin die „Endlosigkeit der Formen“ nennt.

Im Sinne der Abstraktion bedeutet dies den Verzicht  auf formale Abenteuer, die Reduktion von Form, die Vereinfachung von Details, die Vermeidung des Üppigen zugunsten des Schlichten, des Verspielten zugunsten des Strenge. Joachim Schürmann fasst diesen Prozess so zusammen: „Wir müssen der Intuition Freiraum schaffen, die das einzige Mittel ist, mit dem man Gleichungen lösen kann, die mehr Unbekannte   als Aussagen haben. Das Mittel der Intuition ist die Reduktion des Problems auf das Wesentliche.“

Das Einfache ist in Wirklichkeit mühevoll und schwer zu erreichen. Kommt hinzu dass Einfaches mit anderem Einfachen nur schwierig zu vergleichen ist. Die Einfachheit eines Mies van der Rohe ist nicht mit der eines Le Corbusier gleichzusetzen. Bei Mies bedeutet sie das Ergebnis gestalterischer Reduktion, bei Le Corbusier strukturelle Abstraktion …

Luis Barragans mönchisch-strenge Architektur, in der die Naturmaterialien Himmel, Wasser und Erde die eigentlichen Baumaterialien sind, ist zwar asketisch, aber dennoch dramatisch in der Interaktion von Masse, Leere und starken Farben. Wo seine Architektur eine fast surrealistische Komposition voller Stille und nobler Strenge ist … strahlen die Bauten eines Peter Zumthor eine gelassene Eleganz und ein inneres Gleichgewicht aus … Die nüchterne und strenge Sparsamkeit eines David Gilly lässt sich kaum mit der Architektur eines Adolf Loos vergleichen. Der eine übt Prachtverzicht als Ergebnis einer politischen Krise, die leeren Flächen eines Adolf Loos sind Ausdruck der Verletzlichkeit der Materie. Er verband mit der Enthaltsamkeit vom Ornament die Reinigung vom Missbrauch einer formal überschwänglichen Alltagspraxis.

Einfachheit in der Architektur und ein disziplinierter Städtebau brauchen Sensibilität und Zurückhaltung. Ein hemmungsloses Feuerwerk architektonischer Ideen und eine ungebremste Vielfalt gestalterischen Reichtums mag erregend sein, ist aber auch strapaziös und im Kontext manchmal des Guten einfach zu viel.

Die Architektur von Joachim und Margot Schürmann hält besonders dort, wo sie Neues zu Altem fügt, auf gute Nachbarschaft. Sie trumpft nicht auf, sondern ergänzt die gewachsene Umgebung in ihrer Eigenschaft, indem sie Maßstäbe aufnimmt, Fluchtlinien weiter entwickelt, Gliederungen differenziert fortführt. Rücksicht und Besonnenheit kennzeichnen das Ensemble im Kölner Martinsviertel aus romanischer Kirche und sechsstöckiger Wohnbebauung aus Beton, einem vielgestaltigen Begegnungsviertel für ausländische Gastarbeiter, dem eigenen transparenten Büro- und Ateliergebäude und vielen schmalbrüstigen, in den 1950er Jahren auf den alten Parzellen wieder entstandenen „kölschen“ Häusern; ein wohlproportioniertes innerstädtisches Viertel um den Platz, wo früher der Kreuzgang des Klosters von Groß St. Martin lag; von ruhiger, entspannter Atmosphäre, empfindsam ausbalanciert in seiner Mischung aus Bewohnern und Passanten, Wohnungen und Läden, Büros und Restaurants, Freiraum und Grün. Hier ist ein Stück Stadt als lebendiger neuer Organismus entstanden, kein Denkmal. Mit diesem Quartier ist den Schürmanns eines der interessantesten Viertel Deutschlands gelungen, wo durch Wiederherstellen und Komplementieren des Gegebenen und durch Einfügen des Mangelnden ein Sichtbarmachen des genius loci erreicht wurde, wie es innerstädtisch überzeugender und lebendiger kaum vorstellbar ist, ein Ort von weltläufiger Gelassenheit und ruhiger Harmonie.

„Der Mensch kann mit dem Menschen nur durch das gleiche Ideal Verbindung halten“, verlautete einmal Antoine de Saint-Exupérie. Hier ist es das Interesse am Menschen und seinem Wohlergehen dem die Architekten Form und Raum gegeben haben.