Als Bernhard Rudofsky 1964 sein Buch „Architecture without Architects“ schrieb, erregte es grosses Aufsehen. In einer Zeit, in der das vorfabrizierte Bauen zu ersten katastrophalen Ergebnissen führte und Architekten davon träumten, mit gigantischen reproduzierbaren Strukturen die Welt neu zu „gestalten“, sang hier ein Autor das Loblied auf traditionelle Varianten des Bauens ohne professionelle gestalterische Planung. Die Übersetzer des Buches versuchten noch, den Titel des Buches mit „anonymem Bauen“ einzukreisen, was jedoch völlig neben den Intentionen Rudofskys lag. Heute hat sich die Bezeichnung als Beschreibung für ein Bauen etabliert, das sich nicht an der Architektur prominenter Stararchitekten misst, die auf Einmaligkeit und Sensation setzen. Architektur ohne Architekten orientiert sich vielmehr an einem zeitlosen Bauen jenseits modischer Gefälligkeit, an tradierten Formen und Materialien und nicht an einer auf spektakuläre Höchstleistung ausgerichteten Architektur.
Unsere Wegwerfgesellschaft verlangt nach immer neuen und anderen Produkten. Was heute als gut und richtig gilt, ist morgen überholt. Das gilt inzwischen auch in der Architektur. Ein qualitätvolles, alltägliches Bauen, das nicht provoziert, sondern überzeugt, das eher bescheiden ist, aber von undramatischer Gelassenheit, findet kaum noch seinen Weg in die Architekturgazetten. International wahrgenommen wird nur die ungewöhnliche und Aufsehen erregende Form und Lösung. Dergleichen Bauten werden zwar bestaunt, aber selten geschätzt, sie locken Besucherströme an, aber sie sind fast nie Heimat oder „Spielraum für Leben“, wie Ulrich Conrads Architektur nannte. Extravagante Bauten verlieren schnell ihre Anziehung, weil man sich an ihnen satt sieht; derartige Architektur ist nur als Ausnahme, nicht aber als Regel gut.
Alle solche Architektur stammt von Architekten. Nicht selten aber wohnen gerade die Besten und Bekanntesten in Bauten der Jahrhundertwende, deren Urheber unbekannt sind, oder sie besitzen ein altes Haus auf dem Lande oder im Gebirge, das ein lokaler Handwerker vor Jahrhunderten errichtet hat. Der Reiz alter Strukturen ist auch für modernste Gestalter eine Sucht. Wer einmal als Besucher alte Bauernhöfe in der Schweiz oder Lehmhäuser in Mali aufgesucht hat, der weiß, das solche, aus der direkten Verwertung herausgenommene und damit geradezu entschleunigte Architektur eine Atmosphäre aufweist, die eine unmittelbare Wirkung auf das Gemüt des Betrachters oder Bewohners hat.
Er fühlt sich wohl und angekommen, Seelenruhe stellt sich ein. Bauten von solchem Gewicht werden instinktiv geliebt und haben demzufolge eine lange Lebensdauer. Ihre Schönheit ist selten großartig, aber eine Funktionserfüllung für die Seele. Der Atmosphäre solcher Bauten gelingt nicht selten ein sinnstiftendes Erleben, das der Mensch in Bruchteilen von Sekunden emotional erspürt, auch wenn er es vielleicht nicht erklären kann.
„Man kann nicht jede glatte Wand für ein Erlebnis halten,“ schrieb einmal der Architekturkritiker Walfried Pohl. Genau das aber hat die moderne Architektur von und mit Architekten zelebriert und erntete dafür die weitgehende Ablehnung der Nutzer. Eine makellose Gerade oder eine perfekte Symmetrie erfreuen viele Architekten, aber selten normale Menschen. „Würfel sind nicht das Maß aller Dinge,“ erkannte der Architekturstar Greg Lynn, aber durchgesetzt hat sich diese Erkenntnis unter Architekten noch längst nicht, ebenso wenig wie die Einsicht, dass die splitter- und blitz-artigen Bauten des Dekonstruktivismus nur eine formale Mode bis zur nächsten darstellen.
Bauen ohne Architekten weist andere Charakteristika auf: eine gewisse Zeitlosigkeit im Gegensatz zu modischer Individualität, Maßstäblichkeit statt Gigantomanie, Rythmus statt Stereotypie, der Verzicht auf gebaute Symbolik, eine gewisse Ruhe in Farbe und Material, die sich nicht selten aus der Umgebung erklärt. Grelle Buntheit ist selten, glatte Oberflächen sind es auch. Einfachheit meint nicht Einheitlichkeit, Unregelmässigkeit nicht Ungeschicklichkeit. Bauen ohne Architekten ist nicht selten kunstlos, aber nie gekünstelt. Seine Proportionen sprechen an, auch wenn man nicht genau sagen kann warum.
Einer der größten Unterschiede zwischen traditionellen Bauten und moderner Architektur ist das Alternkönnen. Modernen Bauten steht der Verlust an Neuheit nicht, sie werden schnell schäbig. Traditionelles Bauen verwendet meist Stein, Ziegel oder Holz, natürliche Materialien, denen das Alter nicht selten eine Würde und eine ausdrucksstarke Schönheit verleiht, die Menschen als unvermeintliche Entwicklung leichter akzeptieren als eine durchgerostete Betonwand oder eine verrottete Kunststoffoberfläche.
Traditionelle Architektur ist nicht auf Perfektion ausgerichtet. Natur und Handwerk garantieren leichte Uneben- und Unregelmässigkeiten, die sowohl das Auge als auch das Gefühl als Reichtum ansehen, nicht als Fehler oder gar als als Sünde Nur wo Perfektion wie bei vielen Bauten von und mit Architekten ein unverzichtbares Ziel in der Architektur ist, werden Unvollkommenheiten zu Unzulänglichkeiten, die unangenehm auffallen und stören. Die Stimmigkeit traditioneller Bauten beruht nicht selten auf ihrem Verzicht von einem Mehr an Gestaltung, Farben und Materialien. In der alten japanischen Architektur und in der Kunst des Wabi Sabi – edle Einfachheit als höchste Tugend – ist das, was man weglässt, oft wichtiger als das Hinzugefügte.
Wer einmal die alten Wege im Tessin zwischen hohen geschichteten Mauern gelaufen ist, wer einmal den Reichtum der blendend weissen kykladischen Architektur mit ihren kunstvollen Treppen geschaut hat, wer Venedigs Vielfalt in den unbekannten Vierteln jenseits des Canale Grande bestaunt und sich inmitten der schiefen Häuser an Amsterdams Kanälen wohlgefühlt hat, der weiß, dass das Erlebnis einer Architektur ohne Architekten manchmal eine regelrechte Erholung von der Architektur mit Architekten sein kann.