Witry & Witry

Die Vorstellung eines Buches

Der Grund unseres heutigen Treffens ist die Vorstellung des Buches Witry + Witry „Über das Wohnen“. Das ist ein freudiges Ereignis, denn mit dieser Publikation stellen Ursula und René Witry das Buch ihres Lebens vor.  

Das klingt zunächst übertrieben, ist es aber nicht. Denn zwischen den beiden Buchdeckeln des 484 Seiten starken Werkes liest man vieles über die Haltung der beiden zu Menschen, zu Umwelt und zu Architektur. Man liest, was ihre Werte sind, woher ihre Prägungen stammen, was sie für Vorlieben haben. Man erfährt über ihr Lernen und über das, was sie unter Verantwortung verstehen. Man liest über Leidenschaft, über Gelassenheit, über Geduld und Gründlchkeit. Man hört von ihrer Ablehnung jeder Art von faulem Kompromiß, von Gradlinigkeit und Nachdenklichkeit. Das Buch informiert über die Persönlichkeit zweier sozial denkender Architekten, die Essenz ihrer Arbeit und die 40jährige Geschichte ihres Büros.

Ursula und René Witry sowie ihr Team sind das Buch vermutlich angegangen wie ein Stück Architektur. Zuerst eine Ideensammlung, dann eine Konzeption dessen, was man sagen und zeigen will.

Danach werden Autoren gesucht, von denen man weiß, was ihre Meinung und Haltung ist, dann erfolgt die grafische Konzeption, die nicht starr, sondern flexibel sein muss. Details werden diskutiert, Projekte ausgewählt, Pläne angefertigt, Fotos gemacht. Und nie und nimmer wird die Kontrolle aufgegeben, nicht bei einem Buch, nicht bei einem Bau. Aber man bleibt offen für Ratschläge und Kritik, man nimmt sich die Zeit, die es braucht, alles Für und Wieder abzuwägen.

So entsteht Qualität, nicht nur bei Büchern, sondern auch in der Architektur. Und qualitätsvolle Bauten haben die Witrys in ihrem bisherigen Leben viele gebaut.

Ich scheue mich, über die Schönheit ihrer Architektur zu sprechen. Selbst wenn jeder von uns weiß, was er oder sie für schön hält, so ist der Begriff doch abgenutzt. Eine einheitliche Meinung dazu gibt es nicht mehr. Dennoch: viele ihrer Bauten sind schlicht schön.

Wer sagt, etwas sei schön, meint meist nicht nur die Form eines Hauses, sondern auch seine Atmosphäre und die Angemessenheit der gestalterischen Mittel. Schön meint eine Vielzahl von unterschiedlichen, durchaus auch widersprüchlichen Dingen. Schön bezieht sich nicht nur auf Formen und auf Gestaltung, sondern auch auf ein Stück erlebter Freiheit desjenigen, der von schön spricht. Etwas schön zu finden, ist ein kreativer Erlebnisprozess im Gegensatz zum bloßen Zur- Kenntnis- Nehmen von Dingen, ein Prozess, der mit Offenheit, nicht mit Zwang verbunden ist. Das Schöne in der Architektur ist nicht nur abhängig von Stilen, Techniken, Materialien, Inhalten und Nutzungen, es ist auch abhängig von Anschauungsreichtum und Denkfreiheit.

Gottseidank gehören Ursula und René Witry nicht zu den Architekten, die mit jedem neuen Bau Aufsehen erregen wollen. Natürlich wollen sie, dass er gefällt, vor allem aber, dass er brauchbar ist. Ein solch qualitätsvolles  Bauen ist eines, das nicht provoziert, sondern überzeugt, das eher zurückhaltend ist, aber stimmig und von undramatischer Gelassenheit. Dafür gibt es in diesem Buch viele Beispiele. Die katalanischen Architekten RCR haben das einmal so genannt: „ Wer so baut, wie er fühlt, wird überall verstanden“. 

Gutes Bauen ist immer auch ein Bauen im Kontext und Ausdruck einer Auseinandersetzung mit einem konkreten Ort. „Orte“ aber sind eine schwierige Materie. Sie sind nicht einfach Grund-Stück oder Bau-Grund, sie sind Grundlage für Identität. Heidegger hat deutlich gemacht, daß Denken mit Ortserfahrung verbunden ist. Ohne beides kein Gefühl von Geborgenheit. Nur von konkreten Orten baut der Mensch seine Beziehung zur Welt auf, auch in Zeiten zunehmenden Unterwegsseins.
Wir benötigen den Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen. 

Das Verständnis für einen Ort ist nicht einfach da. Es muss vom Architekten erarbeitet werden mit Neugierde und Erfahrung. Orte erzählen meist eine Geschichte und sind eine Realität, die in ihren Formen und Räumen zutage tritt. Aber über ihre materielle Beschaffenheit hinaus werden Orte von kulturellen Befindlichkeiten geprägt, zum Positiven wie zum Negativen. Diese zu verstehen fordert vom Planer oder Architekten Sensibilität und Akribie. 

Es gibt keine Orte ohne Geschichte. aber viele Orte sind sich heute  selbst entfremdet. Ihr Gedächtnis ist sich seiner physischen und kulturellen Werte nicht mehr sicher. Hier muss verschüttetes Bewusstsein wieder geweckt werden. Dabei können Beeinträchtigungen in Tugenden und Schwierigkeiten in Charakteristika verwandelt werden. Nur wenn es Architekten gelingt, die Lebensbedingungen eines Ortes auszuloten und durch Bauten von atmosphärischem Reichtum zu ergänzen, die Menschen entdecken, adaptieren, erinnern, lieben können, können sie sich einen neuen Ort aneignen. Dann ist Identität kein Problem. Beide Witrys verstehen sich auf diesen Prozess. und lassen sich immer wieder darauf ein. Das Buch liefert dazu viele Beweise.

Ursula und René Witry haben ihr Buch „Über das Wohnen“ genannt. Das brennende Interesse an diesem Thema verbindet uns. Wohnen, Zu-Hause, Daheim, Heimat, Bleiben - viele Begriffe beschreiben die Sehnsucht des Menschen nach einem Ort der Heim- und Einkehr.

Von allen sind Wohnen und Bleiben die grundlegendsten Begriffe. So hat Bleiben für Martin Heidegger eine zutiefst existentielle Bedeutung, die er auch dem Wohnen zumisst. Ähnlicher Meinung ist der Medienphilosoph Vilem Flusser, wenn er behauptet, dass Wohnen allen Menschen eigen sei und bei sich sein bedeute. Er wird noch präziser, wenn er in seinen Ausführungen über das Sich-verorten des Menschen feststellt:“ Ohne Wohnung wäre ich unbewusst, und das heißt, dass ich ohne Wohnung nicht eigentlich wäre.“ Am eindringlichsten formuliert es der chinesische Philosoph Laotse: „Die Realität eines Raumes besteht nicht aus Mauern und Dach, sondern aus dem inneren Raum, in dem man leben muss.“ Wer in sich ruht, wer bei sich ist, den trifft der Verlust von Heimat zwar schwer, aber er erkennt nach einiger Zeit, dass man als Mensch immer auf dem Heimweg ist, Heimat also eine lebenslange Identitätsentwicklung ist.

Über all dieses informiert das schöne Buch. Ich bin sehr dankbar, dass ich daran mitwirken durfte.