Überleben ist möglich

Zum 90. Geburtstag des Abgeordneten Jacob Maria Mierscheid

Lieber Herr Mierscheid,

ich möchte Ihnen ganz herzlich zu Ihrem 90. Geburtstag am 1.März gratulieren und mich dafür entschuldigen, dass ich es einige Tage zu spät tue. Aber Sie werden dies sicher akzeptieren, da ja selbst der Bundestag, dem Sie so lange angehören, erst mit zweitägiger Verspätung reagiert hat.

Ihnen dürfte dies gar nicht aufgefallen sein, da Sie als viel beschäftigter Abgeordneter anderes zu tun haben, als Lobeshymnen auf sich selbst anzuhören. Im Übrigen wäre es ein wirkliches Kunststück Sie einmal persönlich  zu treffen. Sie sind einfach immer unterwegs; auch diesmal waren Sie wegen wichtiger Termine in Brüssel nicht persönlich zu Hause oder im Bundestag zu erreichen. Wir sind es von Ihnen einfach seit langem gewohnt, dass Sie als Meister schriftlicher Stellungnahmen diese dem persönlichen Auftritt vorziehen.

Dennoch bedaure ich es zusammen mit der Vizepräsidentin des Bundestages, Aydan Özoguz (SPD), dass die Öffentlichkeit bis heute noch auf Ihre erste Rede im Bundestag wartet. Ich weiß, was Sie mir antworten würden, nämlich dass Sie ein ein wenig scheuer und bescheidener Mann sind. Und das ist ja wirklich so. Wie sagte Frau Özoguz in Ihrer Rede auf Sie: „Er ist ein bekennender Hinterbänkler, der aber viel angestoßen und erreicht hat. Und das, ohne ein einziges Mal bei Markus Lanz zu sitzen“. Das rechne ich Ihnen besonders hoch an.

Sie sind seit 43 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages und damit bis auf wenige Jahre hart auf den Fersen von Wolfgang Schäuble. Sie gehören zu den ältesten, aber auch leider unbekanntesten Mitgliedern des Bundestages. Viel mehr als Ende  1979, als Sie Abgeordneter wurden, weiß die Öffentlichkeit bis heute nicht über Sie: Mitglied der SPD, katholisch, verheiratet, vier Kinder, von Beruf Schneider, wohnhaft in Morbach im Hunsrück.

Wer Sie auf Grund Ihrer Abwesenheit allerdings als „Phantomabgeordneter“ bezeichnet, vergisst Ihre wahrheitsgemäße Selbstbeschreibung: „Ich gehöre zu den Säulen unseres Staatswesens.“ Und Säulen sind ja bekanntlich fest und festverankerte Bauteile, die nicht wie Ihre Kollegen ständig in der Welt herum schwirren.

Wer Sie so nennt, vergisst Ihre umfänglichen Initiativen und Aktivitäten aus 40 Jahren. Ich nenne nur Ihre Überlegungen zum Nord-Südgefälle der Bundesrepublik die artenspezifischen Untersuchungen zur Steinlaus und zur Pflege und Aufzucht  der geringelten Haubentaube. Ihre Sensibilität in diesen Fragen macht Sie zu einem Vorbild für die Zukunft. Zu Recht hat der Bonner Journalist Peter Raabe 1986 Ihr umfangreiches Wirken in einem Buch zusammen gefasst.

Dass Sie 2006 überraschend aus der SPD austraten und dann von der Piratenpartei als neues Mitglied gefeiert wurden, hat viele verunsichert. Gottseidank stellte sich diese Meldung als fake heraus. Sie bleiben ein Vorbild für viele zweifelnde Abgeordnete, wie es Peter Struck einmal ausführte. Und dass Sie sich in Ihrem hohen Alter noch auf europäischer Ebene mit dem Zeugungsverweigerungsgesetz beschäftigen, macht Ihnen so schnell keiner nach.

Bleiben sie aktiv und gesund und freuen Sie sich auf Ihren Jahrhundertgeburtstag, den alle Ihre Freunde und Kollegen gern mit Ihnen feiern möchten. Ich würde mich über eine Rückantwort auch in Sütterlinschrift freuen, denn ich habe sie noch von meiner Großmutter lesen gelernt. Dass Sie sie nach wie vor pflegen, zeigt Ihre Verbundenheit mit der Vergangenheit.

Herzliche Grüße
Ingeborg Flagge

P.S. Jakob Maria Mierscheid gibt es nicht. Fake also. Er wurde im Dezember 1979 in einem Bonner Restaurant von den SPD Abgeordneten Peter Würz und Karl Haehser erfunden. Seine ersten Charakteristika standen auf der Rückseite einer Speisekarte. In den folgenden Jahren wurde Mierscheid „verfeinert“, und viele Menschen haben an seinem Lebenslauf mitgewirkt und tun es bis heute. Mierscheid sollte den damals verstorbenen Carlo Schmid ersetzen und die  Abgeordneten ab und an zum Lachen und Schmunzeln bringen. Das ist gelungen und findet bis heute die Unterstützung aller Parteien.

Für weitere Hinweise siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Maria_Mierscheid