„Atlas der fiktiven Orte“

Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen

In einem mexikanischen Sprichwort heißt es: „ Wir sind nicht zum Lesen, sondern zum Träumen auf die Welt gekommen.“ Für diesen Zustand wurde der obige Reiseführer geschrieben (von Werner Nell, illustriert von Steffen Hendel, Meyersverlag 2012).

Es ist ein Buch für Liebhaber, für die Träumen kein Gegensatz zum Reisen ist und für die die Herausforderung ihrer Neugierde und die Entdeckungsreisen ihrer Phantasie wichtiger als das Erlebnis realer Orte sind. Die fiktiven Länder, Landschaften oder Gärten und Städte, denen man dabei begegnet, sind leicht zu erreichen und zu durchqueren. An den fiktiven Orten gibt es kein touristisches Gedrängel, kein monatelanges Vorbuchen ist notwendig, keine Abhängigkeit vom Wetter stört, und für Menschen mit knappem Budget sind alle diese Reisen kostenlos.Nur ein „wenig poetischer Wahnsinn“ und eine Lust an fabelhaften Vorstellungen sichern den Einstieg in die seltsamen Orte dieses Atlas.

Die fiktiven Örtlichkeiten entstammen einer Vielzahl von Wissensgebieten. „Schilda“ und „Lilliput“ sind Märchen entnommen, der „Olymp“ verweist auf die griechische Mythologie und „Niflheim“ auf die nordische- „Mittelerde“, wo der Herr der Ringe und die Hobbits wohnen, wurde in J.R.R.Tolkins Büchern geboren, und der „Zauberberg“ entstand in Thomas Manns Hirn. „Metropolis“, die Stadt der Maschinenmenschen, wurde durch einen Film von Fritz Lang berühmt, „Entenhausen,“ der Wohnort Donald Ducks, ist ein Produkt von Disney, das „Paradies“ ein in  der islamischen, jüdischen und christlichen Religion beheimatetes Thema. „Mahagoni“ wurde von Bertold Brecht beschrieben, „Camelot“ von King Arthur gebaut, die „Sonnenstadt“, 1568 erfunden von Tommaso Campanella, einem italienischen Mönch und Philosophen, als späte Folge der Idealstadt der Renaissance formuliert.

Der Atlas ist kein Kinderbuch, vielmehr ein wunderschönes Konvolut für Erwachsene, deren Phantasie und Vorstellungskraft nicht völlig im alltäglichen Stress untergegangen sind. Zu jedem Ort - und sei er noch so absurd - gibt es eine wunderbare Karte, um sich den Stadtkern, die öffentlichen Gebäude,  Strassen und Plätzen vorstellen zu können. So gleicht Entenhausen einer amerikanischen Großstadt mit ihrem rechtwinkligen Raster. Und das Paradies ist ein von einer hohen Mauer umgebener Garten, wo laut Gen.2,8-15 im Alten Testament die vier Flüsse Euphrat, Tigris, Pichon (wohl der Ganges) und Gichon (wohl der Nil) entspringen.

Wie bei einem realen Reiseführer gibt es Hinweise auf Literatur zur jeweiligen Örtlichkeit, zu ihrer Größe, der Bevölkerung und den herausragenden Sehenswürdigkeiten. Für das Paradies sind das „Apfelbaum, Schlange, Gartenmauer, Auen, Häuser aus Gold und Edelsteinen“. Die Texte zu den einzelnen Orten sind ebenso sachtich wie ideenanregend. Luftschlösser, Hirngespinste und Halluzinationen halten sich dabei die Waage. So hat „Schlaraffenland“ große Ähnlichkeit mit unserem Magen, der dort wichtigste Ort ist der „Jungbrunnen“, es gibt Flüsse aus Milch, Häuser aus Lebkuchen, Zäune aus Bratwürsten und Tauben, die einem gebraten ins Maul fliegen.

Das Buch ist ein zauberhafter Atlas, dessen Studium die eigene Phantasie voraussetzt, gleichzeitig aber auch erweitert und bereichert. Ein wenig fühlt man sich an Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ erinnert, wo der lesewütige Balthasar Büx „Phantasien“ durch sein Lesen entdeckt und rettet.