Macht hoch die Tür, die Tor macht weit

Ein zufällig wiedergefundener Text aus dem Jahre 1993

Wer Begriffen auf die Spur kommen möchte, der findet in Sprichworten und Redewendungen oft reiches Anschauungsmaterial. Tür, Tor und Fenster machen da keine Ausnahme. Wem Tür und Tor offen stehen, der ist willkommen. Jemandem dagegen den Stuhl vor die Tür setzen, ihm die Tür weisen, sie hinter ihm zuschlagen, heißt, sich drastisch und endgültig von ihm zu verabschieden. Wer sich eine Tür offen hält, der sichert sich einen Rückweg. Wer die Tür hinter sich ins Schloss fallen läßt, der verschwindet meist auf länger. Hinter verschlossenen Türen werden Pläne geschmiedet und Geheimnisse ausgetauscht. Zwischen Tür und Angel befindet man sich höchst ungern und ist dort in einer eher unsicheren Lage.

So zahlreiche Assoziationen kommen beim Fenster nicht auf. Wer weg vom Fenster ist, der wird nicht mehr gesehen und seine Chancen haben sich beträchtlich vermindert.Wer das Geld zum Fenster raus wirft, der darf sich nicht wundern, wenn es andere aufnehmen und er ein armer Mann wird.

Fenster und Tür sind so notwendige Bestandteile des Hauses wie das Dach. Nicht selten werden sie auch mit den Augen und dem Mund in einem menschlichen Gesicht verglichen, das durch sie seinen persönlichen Ausdruck erhält. Tür und Fenster prägen die Erscheinung eines Gebäudes wie Mund und Augen die eines Menschen.

Fenster und Türen sind Symbole für Offenheit, für Freiheit, für Licht, Luft und Leben. Die Bürger von Schilda, die versuchten, das Licht in Säcken in ihr fensterloses neues Rathaus zu tragen, waren schlicht dumm. Wenigstens aber hatten sie nicht vergessen, Türen zu bauen.

Fenster und Türen trennen den öffentlichen vom privaten Raum. Wer im Fenster liegt und die Welt betrachtet, tut dies aus der Sicherheit seiner privaten Sphäre. Wer die Tür hinter sich zumacht, will vom Leben draussen wenigstens für kurze Zeit nichts mehr wissen. Er ist zu Hause bei sich und will nicht gestört werden.

Vor der Tür lauern Gefahren und kann der Feind stehen, hinter der Tür ist man gewöhnlich geborgen. Hier ist auch der Flüchtige sicher. Hier waltet das Gastrecht, das selbst den persönlichen Feind schützt, sobald er die Schwelle übertreten hat und solange er sich unter dem gemeinsamen Dach befindet. Jedenfalls war das früher so.

Die Tür steht für Sicherheit. Das galt besonders in Zeiten des Krieges oder anderer Auseinandersetzungen. Burgen schützten sich vor dem Feind mit wehrhaften Toren. Selbst wer sie überwunden hatte, konnte sich noch nicht als Sieger fühlen. Von raffiniert angelegten Wegen griff man den Feind an seiner wehrlosen, schildlosen Seite an. Feinde wurden so in ihrem Eroberungsdrang auch noch innerhalb der Mauern gebremst.

Mittelalterliche Städte schlossen abends ihre Pforten. Keiner, der sich nicht ausweisen konnte oder unpünktlich war, wurde durch das Tor in die gute und sichere Stube Stadt hinein gelassen.

Die Tür als Eingang und Ausgang ist um vieles älter als das Fenster. Es gibt sie, seit sich Menschen nach dem Wohnen in Höhlen erste Behausungen bauten. Wegen ihres Alters und ihrer Bedeutung sind sie so symbolträchtig wie kein anderer Bestandteil des Hauses.
Eine ähnlich grosse Bedeutung hat die Schwelle, die Furcht vor einem unerlaubten Übertreten nennt sich nicht umsonst Schwellenangst.

Die Schwelle ist sowohl Grenze wie Übergang. die Tür selbst ist ein Doppelsymbol für Einlass und Abwehr. Um frühere Tempel vor bösen Mächten und Menschen zu schützen, stellte man an ihre Eingänge häufig Wächter in Form von Löwenskulpturen  oder gab Türriegeln und -klinken die Form wilder Tiere. Im Tympanon christlicher Kirchen über den Eingangstüren wachte nicht selten ein thronender Christus über den Eintritt der Menschen.

Nicht daß sich moderne Pförtner mit Löwenwächtern vergleichen lassen. Aber sie sollen eine ähnlich abschreckende Bedeutung wie ihre tierhaften Kollegen haben. Den prächtigen, goldbetressten Türsteher vornehmer Hotels fürchtet im Zweifelsfalle niemand, aber seine aufgeputzte Gestalt soll minderwertigen Subjekten Angst machen und am Eintritt hindern. Eine wirkliche Kontrolleurin der Privatsphäre der Bewohner eines Hauses und damit auch ihrer Sicherheit war einmal die Concierge in Paris. Dass sie daneben noch die Post annahm, kleine Besorgungen machte, führte dazu, dass sie bestens über das Leben derer informiert war, über die sie wachte. An die wehrhaften Wärter mittelalterlicher Stadttore erinnern noch heute Cops vornehmlich in den USA: An ihrer Gesichtskontrolle vorbei überschreitet niemand die Schwelle eines Apartmenthauses, in dem er nicht wohnt oder bekannt ist. Die sogenannten Gated Communities, Wohnanlagen mit einem Zaun drumherum und einem schwer bewachten Eingang, tragen die Hauptidee dieser Form des Wohnens schon im Namen.

Im ägyptischen wie in anderen Kulten galt das Öffnen der Türen eines Götterschreines als symbolische Öffnung der Himmelspforten. Ein Türdurchgang symbolisierte in den antiken Mythen den Übergang von einer Stufe der Erkenntnis zur nächst höheren. Der doppelköpfige römische Gott Janus bewachte den Eintritt undS Austritt von Menschen in Tempeln und Privathäusern. Seinem Blick entging nichts. Auch das Christentum übernimmt die mythische Bedeutung von Tür und Tor. Christus sagt von sich im Johannes-Evangelium 10.9: „Ich bin die Tür. Jeder, der durch mich eintritt, wird gerettet werden. “Weniger grundsätzlich ist da schon die Himmelspforte, zu der Petrus den Schlüssel hat.

Ein so wichtiges Element des Hauses wie die Tür, das in allen Kulturen Tabucharakter hat, macht es geradezu zwingend, es seiner Bedeutung entsprechend zu gestalten und zu schmücken. War die Tür anfänglich nur eine einfache Öffnung, wurde sie bald in Holz oder Metall gefertig.Das Türblatt selbst wurde zunehmend mit Beschlägen, Reliefs und Ornamenten verziert. Zu den kostbarsten Türen dieser Art gehören die Bronzetüren des Florentiner Baptisteriums und die sogenannte Bernwardstür am Hildesheimer Dom. Diese prachtvollen Türen können es mit anderen herausragenden Kunstgegenständen ihrer Zeit aufnehmen.

Später wurden dann Türöffnungen durch Säulen, Überdachungen und mit Plastiken geschmückt. Sie wurden zu Portalen, die sich zum wichtigsten Teil der Fassade entwickelten und teilweise ebenfalls magische oder allegorische Bedeutung annahmen. Große Sakralbauten haben sogar mehrere Haupt-und Nebenportale. Seit der Antike zelebrieren die sogenannten Propyläen, monumentale Torbauten, die Eingänge in die Heiligtümer. Die zur Akropolis führen sind vielleicht die bekanntesten. Nach ihrem Vorbild entwarf Leo von Klenze die Münchner Propyläen, die profane Eingangstore zu Strassen und Plätzen bildeten.

Das gegenüber der Tür bedeutend jüngere Fenster ist in seinen Anfängen schwierig auszumachen. Die frühen orientalischen Häuser hatten keine Öffnung ausser der Tür. Letzte Ausgrabungen in Kreta allerdings scheinen zu bestätigen, dass es bei den minoischen Palästen schon grosse Öffnungen als Durchblicke in die Landschaft gab.
Die römische Villa schließlich feierte das Fenster als Öffnung in den Garten und als Ausblick in die Umgebung.

Mit der Tür verbindet sich ein grösseres Maß an Freiheit als der Durchblick beim Fenster. Durch Fenster betrat man kein Haus, Fenster waren Lichteinlässe und wurden als „Augen, durch die das Übernatürliche hineinschaut“ angesehen.

Unsere Zeit ist eher eine profane. Die uralte Symbolik von Tür und Tor lebt zwar im Märchen weiter, das wir unseren Kindern vorlesen, aber niemand glaubt mehr an die alte Magie. Der grosse Bund mit einer Unzahl an Schlüsseln ist kein Machtsymbol mehr. Der Allesschlüssel ersetzt die vielen Metallschlüssel, das ist praktisch, aber gänzlich unromantisch wie die Plastikchipkarte in Hotels.

Bedeutung hin, Bedeutung her. Die Tür trennt nach wie vor das Private vom Öffentlichen. Sie steht noch immer für Durchgang und Durchblick, für Rückzug, Schutz, wenn auch heute weniger magisch als realistisch.

In unserer hektischen Zeit mit all ihrem Stress ist es vielleicht sogar wichtiger als früher, die Tür hinter sich zuzumachen, auch wenn Telefon, Fax, Fernseher und Computer viel weitgehender als lästige Nachbarn die Privatsphäre beeinträchtigen können.

Wichtig ist nach wie vor die repräsentative Bedeutung der Tür, allerdings mit vielen Abstrichen im Vergleich zu früher. Kaum ein Bauherr erlaubt sich  die repräsentative Treppe von früher. Das Feiern des Betretens eines Hauses scheint vorbei. Türen heute sind meist knapp und streng, es sind funktionalistische Durchgänge. Betont wird ihre Sicherheit, auch wenn eine Glastür sie transparent zu machen scheint. Transparenz aber ist kein Zeichen von Schwäche, denn Glastüren halten heute so viel aus wie die Wachtore im Mittelalter.

Doch wachsende gesellschaftliche Veränderungen und eine Zunahme von Öffentlichkeit verändern auch die Tür. Straßen und Plätze, die früher der Öffentlichkeit vorbehalten waren, verbinden sich mehr und mehr mit den Gebäuden selbst. Sie verlegen nicht selten den öffentlichen Raum
in das Innere eines Blockes. als Passage oder als Café.
Kaufhäuser, Hotels, Krankenhäuser, Bibliotheken, Banken, Museen oder Schulen errichten in ihrem Innenbereich großzügige Foyers oder Lobbys und repräsentieren sich dort. Sie verzichten auf das großartige Portal und bauen heute Drehtüren. Durch die sind die Besucher ebenso schnell drinnen wie auch wieder draußen. Rotierend um ihre Mittelachse befördert die Drehtür gruppenweise Menschen nach innen und mit derselben Bewegung auch ganz schnell wieder nach aussen.

Ob  nun von Hand bedient oder von „Geisterhand“ bewegt, die uralte Bedeutung der Tür als Übergang von innen nach aussen und umgekehrt, bleibt weiter erhalten. Sie ist allerdings nur wenigen noch bewußt.