Nachhaltigkeit- ein vielschichtiger Begriff

Zu einigen Aspekten eines wichtigen Themas

Nachhaltigkeit ist unbestreitbar das Leitbild des 21. Jahrhunderts und ein anzustrebendes Ziel. Dennoch bedarf der Begriff einer ständigen neuen Definition. Am Anfang stand das englische "sustainable development", und das deutsche Wort Nachhaltigkeit kam erst nach vielem kritischen Hin und Her zustande. Eingeführt wurde der englische Begriff 1980 als Teil der World Conservation Strategy. Seit der Umwelt-Konferenz in Rio 1990 ist er Leitmotiv, aber keineswegs unumstritten.

Ursprünglich kommt der Begriff aus der Forstwirtschaft und beinhaltet, daß nur so viel Holz geschlagen werden wie nachwachsen kann. Inzwischen ist er auf Grund der Ausweitung seiner Inhalte und der Tatsache, daß er nicht selten auch oberflächlich zu PR Zwecken missbraucht wird, so unscharf geworden, daß viele bereits von einem Gummibegriff sprechen und nach immer neuen Bezeichnungen suchen, was das Verständnis auch nicht erleichtert.

Ob der Yoghurt in den Regalen unserer Supermärkte aus einem Land tausend Kilometer weit importiert wird, obwohl vor Ort reichlich gute Produkte vorhanden sind, ob ein finnisches Holzhaus von skandinavienbegeisterten Bayern in die Nähe von München geordert wird, obwohl Schreiner im nächsten Ort seit Jahrhunderten gute Holzhäuser herstellen - auch nach den individuellen Wünschen ihrer Kunden, ob grüne Architekten sich und anderen Lehmhäuser errichten und dazu indische oder ägyptische Fachleute einfliegen lassen, alles dies und sehr viel mehr wird unter Nachhaltigkeit verstanden.
Kommt hinzu, daß der Begriff der Nachhaltigkeit von einer zunächst lokalen Wirkungsweise  inzwischen zu einem Ziel globaler Bedeutung geworden ist und damit weltweite örtliche Verschiedenartigkeiten impliziert, die niemand mehr überschaut. Auch dieser Artikel kann da keine grundsätzliche Klarheit bringen.

Nachhaltigkeit heißt als Ziel, daß unsere Welt im Gleichgewicht gehalten bzw. dorthin gebracht werden soll und kann. Eine schöne, wenn gleich native Vorstellung, gegen die täglich rund um den Globus verstossen wird. Denn von der Verantwortung gegenüber kommenden Generationen, was Nachhaltigkeit auch impliziert, hat jedes Land eine andere Vorstellung.
Das eine Land sucht Zugang zu sauberem Trinkwasser, weil ihm die Stauseen des mächtigen Nachbarn genau dieses Wasser abgraben, ein anderes wehrt sich gegen die Überfischung der Meere durch großindustrielle Unternehmer, weil die eigenen kleinen Fischflotten pleite gehen, viele engagierte Gruppen protestieren gegen den dramatischen Rückgang biologischer Arten, fremde Regierungen pachten grosse Teile afrikanischer Länder, um dort Nahrung für
ihre eigenen Bewohner anzubauen, während weite Teile der einheimischen Bevölkerung vor Ort verhungern - alles Aspekte, die unter den Begriff von Nachhaltigkeit fallen.

Nachhaltigkeit umfaßt ökologische, ökonomische und soziale Komponenten und stellt damit in allen Bereichen unserer weltweit vernetzten Gesellschaft ein wünschenswertes Ziel dar.
Ähnlich vielschichtig wie in der globalen Diskussion ist der Begriff auf dem Gebiete der Architektur. Er reicht von Problemen mit der Dämmung und ihren teilweise fatalen Folgen bis zu begrünten Fassaden und den Fragen, wie wir künftig wohnen wollen und welche Rolle dabei die Stadt spielt. Nikolaus Maak, Architekturkritiker bei der FAZ, meinte hierzu kürzlich in einem Aufruf an "Architekten: auf die Barrikaden", ob es nicht ökologischer sei, "die Städte zu verdichten und die brachliegenden Flachdächer in Gärten umzuwandeln, so daß die Pendler in der Stadt bleiben können, anstatt mit ihren Großlimousinen in das Haus vor der Stadt zu fahren. Und dabei zehnfach die Energie zu verdieseln, die der klapperige Dämmputz einspart".

Architektur speist sich aus vielen Quellen. Nachhaltigkeit ist nur eine, aber für die Zukunft sicher eine wohl unverzichtbare.
Eine ziemlich überzeugende Definition und Illustration von Nachhaltigkeit lieferte kürzlich die Ausstellung im deutschen Pavillon der Architekturbiennale 2012 in Venedig. Unter dem Titel "Reduce Reuse Recycle" , also "Vermeiden Weiterverwenden Verwerten," einem aus der Abfallwirtschaft übernommenem Wertesystem, zeigte die Ausstellung Projekte, bei denen es statt um Abriß und Neubau um kleinstmögliche Eingriffe mit maximaler Wirkung beim Bautenumbau ging.

Eines der Grundprobleme beim kompletten Abriß ist die Tatsache, daß eine völlige Wertevernichtung stattfindet, die heute so nicht mehr tragbar ist , auch wenn Altbauten so weit wie möglich recycelt werden. Denn der Energieaufwand, der bereits bei der Herstellung von Bauteilen eine riesige Rolle spielt, wird bei einer Energiebilanz völlig unterschlagen. Diese sog.graue Energie ist aber ein gewichtiges Argument für den Erhalt und Umbau von Gebäuden. Um den gilt es, sich in Zukunft stärker zu kümmern.

Ob es allerdings wirklich zum nachhaltigen Fußabdruck eines Gebäudes zählt, wenn beim Neubau einige stilistisch wertvolle Überreste ansonsten zerstörter Bauten übernommen und wieder eingebaut werden, wage ich zu bezweifeln. Das Arbeiten mit Spolien ist bekanntlich Jahrtausende alt. Oder was ist nachhaltig daran, wenn Diener & Diener erklären: "Mein Anspruch ist, das Neue nicht kontrastierend gegen das Alte zu setzen, sondern es dem Alten an die Seite zu stellen". Erstens ist diese Formulierung eine reine Interpretationssache und zweitens, was hat ein Karljosef Schattner in Eichstätt über dreißig Jahre anderes als genau das getan. Aber hat er sich deshalb je nachhaltig genannt? Viele Äußerungen zur Nachhaltigkeit sind denn auch Augenwischerei und Modezitate und haben mit dem Thema an sich nichts oder wenig zu tun.

Geradezu kontraproduktiv ist inzwischen die Praxis der Dämmung,  jedenfalls wie sie gemeinhin bei Altbauten gehandhabt wird. Erst rettet man ganze Altbauviertel wegen ihrer gestalterischen Vielfalt vor dem Abbruch, Bürgerinitiativen kämpfen für die Eigenart von Jugendstilbauten und ihrer Ornamentik, um diese heute kaputt zu dämmen und ihre gestalterischen Besonderheiten unter viel Dämmmaterial zu ersticken. "Das Hamburger Kontorhausviertel zu dämmen, ohne daß die Backsteine verschwinden, ist unmöglich", meint Andreas Hild zu Recht. Hier muß nach neuen Wegen in Sachen Nachhaltigkeit gesucht werden.Nachhaltigkeit impliziert sowohl anhaltende Veränderungen aber auch einschneidende Maßnahmen. Um Nachhaltigkeit zu erreichen, müssen deshalb nicht nur alte Einstellungen über Bord geworfen und neue Sichtweisen eingeübt werden, es bedarf auch gänzlich neuer Verfahren und damit wissenschaftlicher Forschung, um für die Zukunft neue Stoffe und Produkte zu entdecken. Insofern sind die Bionik und ihre Ergebnisse hilfreich für die Entwicklung der Nachhaltigkeit.

Die Natur ist bekanntlich der größte Innovator der Erde. Ihr Studium liefert Hinweise auf Prozesse und Produkte, die für und in unseren Alltag übernommen werden können. Wir haben seit langem den Klettverschluß für unseren Alltag entdeckt, den Lotuseffekt, bei dem sich Schmutzpartikel und Wassertropfen auf einer Oberfläche nicht halten können, die poröse Struktur von Knochen, die bei geringem Eigengewicht dennoch hoch belastbar sind und als Vorbild für Metallschaum dienen. Tanker und Containerschiffe zeigen seit längerem vergleichbar der Nase von Delfinen einen Wulst am Bug, der sie auf Grund des so verringerten Strömungswiderstandes bis zu zehn Prozent Treibstoff sparen läßt. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen.
Das Studium der Natur verspricht neue Leichtbauweisen, Isoliermaterialien nach dem Vorbild des Eisbärenfells oder flexible Abdichtungen von Hallendächern - Nachhaltigkeit im Bauen wird von solcher Forschung profitieren. Man muß nur Thomas Edison folgen, der sagte: "Wenn es einen Weg gibt, etwas besser zu machen, finde ihn".

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