Die seltsamsten Orte der Welt

Geheime Städte- verlorene Räume - wilde Plätze- vergessene Inseln

Wer dieses Buch von Alastair Bonnet ( München 2015, C.H.Beck Verlag) mit gleichnamigem Titel wie die Überschrift dieses Artikels in die Hand bekommt, sollte es ausleihen oder kaufen, auf alle Fälle jedoch lesen. Im beliebigen Niemandsland der heutigen Publikationen ist es ein seltenes Buch, fesselnd wie ein Krimi, fantastisch wie ein Kompendium von Märchen, sensationell wie ein Abenteuerbericht, gescheit wie ein gut recherchiertes Sachbuch.Und am Ende der Lektüre hat man soviel über diesen Globus gelernt wie in einem Semester unterhaltsamer Vorlesungen an der Universität. 

Es geht in dem Buch um 47  unterschiedliche Orte. Es sind nicht dieselben Orte, die Architekten und Architekturkritiker im Kopf haben oder erleben, wenn sie in einer bestimmten Situation Neues bauen sollen. Sie sprechen vom Genius loci, bis um die Jahrtausendwende ein gängiger Begriff für alle Baumeister, aber viele Junge wissen mit diesem Begriff heute nichts mehr anzufangen.

Der Genius loci ist eigentlich die Schutzgottheit eines bestimmten Ortes in der römischen Mythologie. Sie prägt einen Ort und gibt ihm seine Atmosphäre. Diese Atmosphäre kann erahnt und nachgeahmt werden, genau zu beschreiben ist sie nicht immer. Gerade in Zeiten der Globalisierung und  der aussergewöhnlichen Bauten, die kaum noch Rücksicht auf ihren Kontext nehmen, wäre es aber wichtig, sich erneut damit zu beschäftigen. Denn neue Architektur kann aus dem spezifischen Ort schöpfen und sich davon inspirieren lassen.

Derjenige, der sich ausführlich und sorgsam mit dem Genius loci in der Architektur beschäftigte, war der Norweger Norberg- Schulz. Sein Buch „Genius loci - Landschaft, Lebensraum, Baukunst“ aus dem Jahre 1982 definierte erstmals genau, was man unter diesem Begriff zu verstehen hatte. Das Buch wurde zur Bibel. Heute kennen es nur noch wenige.

Norberg- Schulz beschrieb das Bauen entsprechend dem Genius loci als eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Ort und als ein Arbeiten im Kontext. Damit meinte er aber keineswegs nur ein Aufnehmen von örtlichen Gegebenheiten; für ihn entwickelt der Mensch aus in sich stimmigen Orten sein Verständnis zur Welt .

Das Verständnis für einen Ort zu erlernen, ist eine schwierige Aufgabe.
Sie braucht Erfahrung, Respekt und Sensibilität und ist nicht einfach von Anfang an da. Die Architekten Baumschlager und Eberle definieren Bauen im Sinne des Genius loci als eine „Architektur, die sich um den Ort kümmert.“

Alastair Bonnet teilt mit Norberg-Schulz die Auffassung, daß der Mensch „eine Orte schaffende und Orte liebende Spezies“ ist. Der Ort sei „ein vielgestaltiger und grundlegender Aspekt dessen, was es heißt, Mensch zu sein“. Aber die Liebe zum Ort gehe weltweit verloren.Einzigartige Orte würden zunehmend durch nichtssagende ersetzt. Damit werde Aristoteles Überzeugung beeinträchtigt, daß der Ort allen anderen Dingen „vorgeordnet“ sein müsse, denn er gebe der Welt eine Ordnung. Die „Topophilie“, die Liebe des Menschen zu einem Ort, gehe einerseits durch die minutiöse Überwachung und Erforschung der Welt verloren, andererseits durch die sich überbietenden phantastischen Urlaubsangebote, die dem Menschen den alltäglichen Ort, der für ihn Heimat und Grundlage seines Lebens ist, verunglimpfen.

Diesem Verlust will er durch die Orte, die er aufsucht und beschreibt, entgegen wirken. Dabei stützt er sich auf einen Satz im Moby Dick, wo Hermann Mellville über eine Insel sagt: „Sie ist auf keiner Karte verzeichnet, die richtigen Orte stehen nie darauf.“ Genau das ist das Wesen der 47 Orte, die er beschreibt. Sie lassen  sich auf Karten kaum oder gar nicht finden. Sie erinnern an Träume, sind aber völlig real.
Sie wurden ausgewählt, weil sie „die Macht haben, zu provozieren und zu irritieren“.

„Die Orte tauchen auf und unter, wie die Inseln im Gangesdelta, verschwinden von Satellitenbilder, wie Sandy Island vor der australischen Küste und verstecken sich unter Gebüsch und Gestrüpp.
Es gibt Orte, die partout keine Nation haben will, und Orte, die scheinbar zu zwei Staaten gleichzeitig gehören.“ Bonnet berichtet von versteckten Labyrinthen und von unterirdischen, verlassenen Orten und überbauten Städten.

Mit diesem Buch entdeckt man die Welt neu.