Immer noch hin- und her gerissen

1970er Jahre Architektur in Frankfurt

Eine Einleitung kann vieles sein, ein Essay, eine Analyse, eine Kritik. Sie kann sachlich, hintergründig oder schwärmerisch sein. In jedem Falle sollte sie in die Zeit einführen, die ein Buch behandelt,  hier die 1970er Jahre in Frankfurt und die Gesellschaft, die diese Bauten zugelassen und gefördert hat.

Aber namhafte Mitschreiber erklären in sachlichen Ausführungen bereits die spezifische Politik dieser Zeit in Frankfurt und die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus analysieren sie die besten Bauten dieses Jahrzehntes in Frankfurt. Damit suchen sie den Geist dieser Zeit nicht an negativen Beispielen nachzuweisen, sondern an guter Architektur, was eine nicht einfache, aber verdienstvolle Aufgabe ist. Was soll ich da noch hinzufügen?
„Machen sie es persönlich“, war der Rat des Herausgebers. Genau das versuche ich. Ein solches Vorgehen erlöst mich von reiner Sachlichkeit und erlaubt emotionale Urteile und logische Sprünge.

Der Weisheit letzter Schluß zur Architektur der 1970er muß also nicht von mir kommen. Ein Zeitzeuge darf auch nach Jahrzehnten noch  unsicher sein. Denn ich bin noch immer hin- und hergerissen zwischen der Ablehnung eines grossen Teiles der Architektur der 1970er Jahre und dem Bemühen, dem auch dieses Buch folgt,  nämlich herausragende Beispiele guter Architektur dieser Zeit  aufzuspüren.

Über diese Zeit zu schreiben, bedeutet für mich eine Reflektion über mich selber. Ich begann nach Studium und Promotion in Archäologie und Ägyptologie, mich für Architektur zu interessieren, mir ein Urteil zu bilden, gute von weniger qualitätvollen Bauten unterscheiden zu lernen und über sie zu schreiben. Man kann also durchaus sagen, daß das Bauen in den 1970er meine Wahrnehmung von Architektur geschärft hat. Gleichzeitig hat mich der Geist der Zeit herausgefordert und zutiefst beeinflußt.

Häuserkampf und Häuserbesetzung

Als in der Nacht vom 23. August 1973 in den obersten Etagen des sog. Selmihochhauses (Architekten: Johannes Kran, Richard Heil), eines damals mit 142 m europaweit höchsten Stahlbetonrohbaus, ein Feuer ausbrach, glaubte ich an Anarchie und Aufstand. Das Fernsehen verbreitete die Nachricht, die bundesweit mit einigem Entsetzen aufgenommen wurde. Wie in Festtagslaune bejubelten die Schaulustigen den Brand und behinderten die hilflose Feuerwehr, die damals noch kein hinreichendes Handwerkszeug hatte, um das Feuer in einem so hohen Gebäude zu bekämpfen. Die Menge tanzte und sang dazu nach dem Reim eines Kinderliedes:“  Jetzt verbrennen wir dem Selim sein klein Häuschen“. Der Verdacht auf Brandstiftung allerdings bestätigte sich nicht.

Der persische Banker und Kaufmann Ali Selmi gehörte für die Szene der Hausbesetzer und ihrer zahlreichen Sympathisanten quer durch alle Schichten der Bevölkerung zu den „Großkapitalisten“, die mit brutaler Stadtzerstörung ihr Geld machten. In Frankfurt ließen sich die Folgen  von Grundstücksspekulation, der Verdrängung der dort wohnenden Menschen sowie des Abrisses ihrer Häuser vor allem im Westend beobachten, einem zentral gelegenen, gutbürgerlichen Stadtteil.
Die Zerstörung des Westends hatte in den 60ern begonnen und führte 1970 zur ersten Häuserbesetzung in der damaligen Bundesrepublik.
Straßenschlachten zwischen Polizei und Bewohnern waren hier normal, überforderte Politiker und eine überbelastete Verwaltung hatten  den zunehmenden Unruhen nichts entgegen zu setzen. Die Stadt bekam den wirtschaftlichen Druck, der intakte Villen und Bürgerhäuser für immer neue, höhere Bürohäuser opferte, ohne sich um die heimatlos gewordenen Menschen zu kümmern, nicht in den Griff.
In dieser Situation verwandelte sich Frankfurt, die schon damals wirtschaftlich dynamischste Stadt der Bundesrepublik, in „Krankfurt“ und „Mainhatten“. Sie avancierte zum hässlichen Symbol einer kapitalistischen Stadtentwicklung, die von militanten Spontis zusammen mit braven Bürgern bekämpft wurde.

Der Brand des Selmihochhauses war der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich über die gesamte Bundesrepublik ausweitete. Entrüstete Bürger empörten sich über von der Macht der Wirtschaft abhängige Politiker und Verwaltungen; der Kampf wurde von allen Seiten mit großer Härte geführt. Die Frankfurter Ereignisse fielen zeitlich in die allgemeine Aufbruch- und Proteststimmung der Studentenbewegung und lösten einen Widerstand aus, der bis heute Folgen für das Selbstverständnis der Gesellschaft sowie ihre Stadtplanung hat.

Übrigens war mit dem Brand auch für Frankfurt die  Grenze der bisherigen Politik erreicht. In den nächsten Jahren änderte Frankfurt seine  Planungs- und Stadtentwicklungsgrundsätze deutlich. Das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 förderte diese Umkehr. Aus Krankfurt wird „Frankfurt. Die Stadt“, die ihre Verantwortung auch für die Architektur der Vergangenheit entdeckt. 1977 erfindet Kulturdezernent Hilmar Hoffmann zusammen mit Oberbürgermeister Wallmann das „Museumsufer“ mit einer Zukunft für 15 Museen, die größtenteils in Villen des 19. Jahrhunderst untergebracht und der neuen Nutzung entsprechend umgebaut werden. Dieser kulturpolitische Kraftakt änderte das Image von Frankfurt und katapultierte die Stadt an die Spitze der deutschen Museumslandschaft.

Profitopolis – eine Ausstellung

Für jemanden, der wie ich Anfang der 1970er Jahre Architektur erst sehen lernte und das Geflecht von Einflüssen, die das Bauen prägen, noch nicht überschaute, war Profitopolis, eine Ausstellung 1972 von Wend Fischer, dem Leiter der Neuen Sammlung München, und von Josef Lehmbruch, einem freien Architekten, das Medium, das mir stärker als vieles andere Geschriebene über die Zustände der Städte damals die Augen öffnete. Eine kurze Zeitlang hatte der Katalog für mich die Relevanz einer Bibel. (1)

Wend Fischer, Jahrgang 1916, und Josef Lehmbrock, Jahrgang 1918, beide alles andere als linke Sozialromantiker und Spinner, konzipierten eine aggressive Ausstellung über den Zustand der deutschen Städte um 197o, den sie „verfassungswidrig“ nannten wegen der Rücksichtslosig-keit der Planung gegenüber sozial Schwachen und maximalem Profit als dem obersten Maßstab aller Dinge. Ihr Ziel „eine Ausstellung über den miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diesen Zustand zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann“ wurde heftigst und kontrovers diskutiert.

Die Ausstellung trug den Untertitel „Der Mensch braucht eine andere Stadt“, eine nämlich, die Spielraum für Menschen ist und kein Gefängnis. Hierfür entwickelten die Autoren überzeugende Vorschläge- jedenfalls nach Meinung vieler. Selten in der deutschen Ausstellungslandschaft wurde Kritik zugleich so grundsätzlich und konkret vorgetragen. Die meisten deutschen Soziologen von Alexander Mitscherlich bis Hans Paul Bahrd unterstützten die von Fischer und Lehmbrock entwickelten Argumente. Helmut Schneider allerdings machte den Autoren in die Zeit den Vorwurf eines „abstrakten urbanistischen Klagegesangs“.
Nichtsdestotrotz war die Ausstellung das grundsätzlichste Dokument ihrer Zeit, das die Zerstörung der gewachsenen Stadt aus Profitinteresse auf die Hörner nahm. Wie mir half sie vielen anderen Menschen, Zusammenhänge und Machtverhältnisse zu erkennen und sich eine kritische Meinung zu bilden.

Die Masse solls bringen

Viele Menschen, die die Stadtentwicklung und das Bauen in den letzten Jahrzehnten verfolgt haben, hielten und halten nach wie vor die 1970er Jahre für die Stunde Null der Stadtplanung. Dabei übersehen sie allerdings, dass in dieser Zeit viele Dinge aufeinander trafen und dass die Zeit keineswegs die Sackgasse war, nach der sie ausschaute.
Einerseits gab es einen grossen Problemstau und Überhang von Großprojekten – Krankenhäuser, Bürobauten, Universitäten, Einkaufszentren- aus den 60ern, deren Realisierung jetzt erst stattfand. Andererseits beobachtete man vielfältige Tendenzen, die ein anderes Denken und eine veränderte Welt und neue Werte herauf beschworen.
Der Club of Rome verkündete die „Grenzen des Wachstums“, die Partei der Grünen wurde gegründet, die erste Ölkrise führte zu autofreien Wochenenden, das ökonomische Wachstum stagnierte und Arbeitslosigkeit breitete sich aus, der erste „Holocaust“-Film wurde 1979 im deutschen Fernsehen gezeigt, die Privatinitiative der Cap Anamur rettete die Bootsflüchtlinge des Vietnamkrieges, das Europäische Denkmalschutzjahr wandte den Blick zurück auf den Wert alter Architektur, die Qualität des kleinen Maßstabes im Bauen gewann an Relevanz, die sog.Postmoderne mit ihren „Stilen“ löste zunächst nur in der Theorie den banalen „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ (Heinrich Klotz) ab, die heiteren Olympischen Spiele in München 1972 wurden das erste Opfer eines terroristischen Anschlages. (2)

Anfang der 1970er Jahre liegt der Fokus der Stadtplanung und im Bauen aber – bedingt durch hohe Nachfrage – zunächst noch weiter auf dem Bau von neuen Stadtteilen mit Wohnungen und entsprechender Infrastruktur. Rationalisierung, Typisierung und Standardisierung - also industrielle Vorfertigung in großem Stil – sollen die Kosten in Grenzen halten und die massenhaften Erfordernisse im Wohnungsbau, im Handel, im Büro- , Bildungs -und Gesundheitsbau realisieren helfen.
Die ökonomischen Herausforderungen sind enorm; gleichzeitig fasziniert der utopische Gehalt der Großprojekte. Der Traum von der Riesenmaschine, die als Stadt oder großes Haus autark und unabhängig ist, fasziniert Bauherren und vor allem Architekten. Ob Einkaufszentrum oder Krankenhaus, alles unter einem Dach, verspricht Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Großprojekte entsprechen zudem einem modernen, fortschrittlichen Weltbild, sie gelten als innovativ und sollen die traditionelle Stadt mit ihrem Straßennetz, ihren Blöcken und öffentlichen Plätzen ablösen.

Daß solche Realität den Menschen und das, was er sucht und benötigt, außen vorließ, schien weniger wichtig . Der normale Mensch kann mit der schroffen Fremdartigkeit von Großbauten wenig anfangen. Die sich brutal in das gewohnte Stadtbild schiebenden Gebilde sind hart, rücksichtslos und lassen jeden Respekt für die Umgebung vermissen.
Auch wenn diese solitären  Klötze manchmal zu Skulpturen für eine selbstbewußte Demokratie erklärt wurden und sie in den 60igern als Zeichen von Aufbruch und Fortschritt galten, so werden sie in den 70ern zunehmend als menschenfeindlich und umweltzerstörend angesehen. (3)

Brutalismus

Mit brutal hat der Begriff nichts zu tun, vielmehr mit béton brut = Sichtbeton. Diese Bezeichnung wählten Baugeschichtler für jenen Baustil der Moderne, der besonders kompromisslos und radikal sein Baumaterial, nämlich Beton, unverkleidet zur Schau stellte und daneben  eine nachvollziehbare Konstruktion sowie die formale Ablesbarkeit des Grundrisses, also Ehrlichkeit auf ganzer Linie, feierte.
Der Baustil und seine Vorliebe für Sichtbeton wurde in den 1950er Jahren in England geboren, verbreitete sich über den Globus, hatte seinen Höhepunkt in den 1970ern und kam in den 1980ern in Verruf. Zu seinen leidenschaftlichen Anhängern zählten neben anderen Architekten Stirling und Alice und Peter Smithsons in England, Niemeyer in Brasilien, Le Corbusier in Frankreich und Kenzo Tange in Japan. Seit heute viele dieser Bauten in die Jahre gekommen sind und abgerissen werden sollen, finden sie wieder Liebhaber und Verteidiger. Das Deutsche Architekturmuseum hat mit der Wüstenrot Stiftung die Initiative „SOS Brutalismus“ gegründet, und andere Bewunderer haben sich in der „Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus“ zusammengefunden.
Beton ist auf Grund seiner Formbarkeit und wegen seines scheinbar grenzenlosen Einsatzes ein faszinierendes Material. Es ist ehrlich, authentisch und vielfältig. dennoch gibt es gegenüber diesem Baustoff  mehr Ablehnung als Sensibilität dafür. Dasselbe gilt für den Brutalismus, der als gehaßtester Baustil des 20. Jahrhunderts gilt.
Le Corbusier war der Meister des Sichtbetons. Die meisten seiner Aufsehen erregenden Bauten wie z. B. das Kloster La Tourette  oder die Wallfahrtskapelle in Ronchamp machen allerdings auch deutlich, dass das Material langfristig Schwierigkeiten macht. Es altert schlecht, bedarf sorgfältiger  Pflege und damit ständiger Investitionen. Von ihrer Brauchbarkeit her sind Brutalismusbauten selten überholt, aber Schäden an der Konstruktion werden zum finanziellen Faß ohne Boden. Gottfried Böhms Dom zu Neviges wirkt trotz seiner Aufsehen erregenden Form von Außen hässlich und heruntergekommen. Die Ruhruniversität Bochum, seit neuerem unter Denkmalschutz, gehört auch nicht zu den attraktiven Bauten ihrer Zeit. Der AFE Turm in Frankfurt, 1972 vom Staatsbauamt Hessen errichtet, wurde 2014 abgerissen. Der Zeitautor Benedikt Erenz schreibt treffend über den 1971 errichteten Anbau des Historischen Museums in Frankfurt, das seit seiner Fertigstellung viel kritisiert wurde und wegen eines kürzlich eröffneten Neubaus abgerissen wurde: „ Untergebracht in einer 1972 neu errichteten Betontruhe von brutalistischer Schärfe…hier gab es nichts zu lachen und auch keine Sentimentalitäten.“
Die heutige Gesellschaft tut sich nach wie vor schwer mit Bauten des Brutalismus, der Denkmalschutz erst recht. Es gibt keine gültigen Kriterien für ein Unterschutzstellen, und insofern bleiben auch die besten Beispiele Abriss gefährdet.

Wohnhochhäuser

Der Schweizer Architekt Peter Zumthor schreibt in seinem Buch „Atmosphären“ : „ Architekturqualität heißt, von einem Bauwerk berührt zu werden“. 4 Und dieses Wohlfühlen wird seiner Meinung nach „blitzartig“ wahrgenommen. Es ist unwahrscheinlich, daß viele der Wohntürme, die in den 70ern gebaut wurden, ihre Bewohner „berührt“ haben, höchstens fühlten sie sich abgestossen.

Die Wohnhochhäuser sind eines der schwierigsten Kapitel des 70er Jahre Bauens. Um 1970 waren  immer noch 800.000 Haushalte nur unzureichend untergebracht. Erst 1975 wird ein annähernder Gleichstand zwischen der Zahl der Haushalte und der Anzahl der verfügbaren Wohnungen erreicht – zum ersten Mal seit dem Beginn der industriellen Entwicklung in Deutschland. Das erforderte eine erhebliche finanzielle Anstrengung. Von 1968 bis 1975 werden 356 Milliarden DM in den Wohnungsbau investiert – 20 % mehr als in den 17 Jahren vorher.
Diese außerordentliche quantitative Leistung ist in vielen Fällen nicht von vergleichbarer Qualität der Architektur oder des städtebaulichen Gesamtbildes begleitet. Viele der großen Wohnungsunternehmen schienen Quantität für ein qualitatives Argument zu halten. Nicht zuletzt viele, auch gute Architekten kapitulierten vor dem Übergewicht der Monostruktur des Massenwohnungsbaus, die das Erscheinungsbild der Quartiere prägte und der mit gestalterischen Mitteln kaum beizukommen war. In einigen wenigen Fällen gelang es engagierten Unternehmern und Architekten, neue Freiräume für soziales Leben, spontane Kommunikation, räumliche Geborgenheit zu finden, meist  aber zu höheren als den durchschnittlichen Baukosten. Der Sonnenring in Frankfurt von Baiser ist gestalterisch eines der anspruchsvollsten Beispiele für Massenwohnen in den 1970er Jahren. Die bewegte Struktur und die großen Freiräume auf Balkonen und Terrassen haben bis heute Seltenheitswert.

Die große Masse der Wohnhochhäuser allerdings gleicht eher der 1970 fertig gewordenen Wohnanlage Osdorfer Born in Hamburg von Fritz Trautwein: 450m lang, auf und niedersteigend bis auf die Höhe von 21 Geschossen. Dies ist das typische Beispiel eines rigorosen Einsatzes der Groß-Element-Technologie. Ich erinnere mich an einen Satz aus einer architekturkritischen Verurteilung dieses kolossalen Gebildes, nämlich dass hier selbst die Schwalben vor lauter Einheitlichkeit ihre Nester nicht mehr finden.

Die Wohnhochhäuser erwiesen sich als wenig geeignet für kinderreiche Familien, für die sie bestimmt waren, und kamen in den 1980er Jahren schnell in Verruf. Die tristen Betonfassaden, die dunklen Treppenhäuser, die ständig kaputten Lifte, die beengten Wohnungen und eine mangelhafte Infrastruktur in den Siedlungen wurden zunehmend abgelehnt. Ihr schlechter Ruf wächst noch durch falsche Belegung, sodass viele der ursprünglich hochgelobten Wohnanlagen wie z.B. in Köln Chorweiler von Gottfried Böhm zu Zentren von Randale und sozialer Unruhe verkamen. In solchen Anlagen war der Sozialarbeiter eher als ein Architekt gefordert.

Seit Wohnhochhäuser wieder in sind, allerdings als Luxusghettos für reiche Menschen, haben auch ältere Türme nach entsprechendem Umbau eine Zukunftschance. So soll in Frankfurt der 93 m hohe Union Investment Turm von Plänen von Albert Speer von Ole Scheeren zu Wohnungen umgebaut werden. Vollmundig schwärmt der Architekt davon, die triste Großform zu verschönern und „eine freie Sicht auf die Stadt zu ermöglichen“. Er verspricht, aus dem schweren Beton ein ganz leichtes Gebäude zu machen, was abzuwarten bleibt.
Dennoch sind die heutigen Wohnhochhäuser kaum mit denen der 1970er zu vergleichen. Ohne Hausmeister und Überwachung jedes Eintretenden geht in den modernen Wohntürmen nichts. Sie sind „gated communties“, so sicher wie ein früherer Burgherr, wenn die Tore seiner Befestigung geschlossen waren. Für kinderreiche Familien sind sie nach wie vor ungeeignet.
Aber es nicht so, als ob die 1970er nur schlechten Wohnungsbau in Hochhäusern produziert hätten. Es gibt aber auch zahlreiche kleinere Wohnanlagen von besonderem Charakter, die durch einfühlsame Reaktion von Architekten auf eine spezifische Situation entstanden. Auch die schöpferische Umformulierung tradierter Bautypen kann einen besonderen Wohn-Ort ausmachen. Der kürzlich verstorbene Erich Schneider-Wessling aus Köln war solch ein visionäres Genie eines anderen Bauens. Unter der Devise „Urbanes Bauen“ schuf er schon in den 1970ern menschenfreundliche Wohngebäude in 3-5-geschossigen Bauten, die selbst heute ihresgleichen an filigraner und eleganter Architektur suchen.

Am Ende des Jahrzehntes

Das vom Europarat 1975 beschlossene Europäische Denkmalschutzjahr ist der sichtbare Ausdruck eines gewandelten Bewusstseins im Umgang mit der als lieblos empfundenen Rationalität bisherigen Planens und Bauens. Es entwickelt sich eine geradezu nostalgische Rückwende zu allem Alten. Auch die europäische Stadt des 19. Jahrhunderts wird wieder entdeckt und hoch geschätzt. „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“, so das Motto des Denkmalschutzjahres, führt zusammen mit der Ölkrise, einem stagnierenden ökonomischen Wachstum und zunehmender Arbeitslosigkeit zu einem veränderten Bewusstsein in den Köpfen und Gefühlen der Menschen. Das Neue an sich wird immer weniger als sozialer Fortschritt gesehen, vielmehr weckt es zunehmend Misstrauen.Eine mögliche Bedrohung der eigenen Existenz durch technischen Fortschritt nistet sich in den Köpfen ein. Der Atomunfall 1979 in Harrisburg, USA, verstärkt die Angst vor einem atomaren Supergau. Die Erhaltung alter Bausubstanz wird in dieser Situation zur Vergewisserung der Vergangenheit und damit zu einem Garanten das Zukunft doch möglich ist. Der Wertewandel übersieht jedoch, dass Erhalten alter Bausubstanz und historischer Viertel nur sinnvoll ist zusammen mit Erneuerung und Weiterentwicklung. Die Stadt ist kein Museum, und es ist die Aufgabe von Architekten und Planern, die menschlichen Maßstäbe aus den alter Quartieren auf Neues zu übertragen und so für einen Ausdruck unserer Zeit in Architektur und Planung zu sorgen.

1. Profitopolis oder Der Mensch braucht eine andere Stadt,
    Die neue Sammlung München, 1971
2. Ideen, Orte, Entwürfe, Architektur und Städtebau in der Bundesre-
    Republik Deutschland, Ausstellung des BDA, Bundesarchitekten-
    Kammer und Deutsches Architekturmuseum, Berlin 1990
3. Franz Eckart, Hans Rudolf Meier, Ingrid Scheuermann, Wolfgang           
    Sonne (Hrg.), Welche Denkmale welcher Moderne, Zum Umgang
    mit Bauten der 1960iger und 70iger Jahre, Berlin 2017
4. Peter Zumthor, Atmosphären, Architektonische Umgebungen,
    Die Dinge um mich herum, Basel 2006

Aus: Frankfurt 1970-1979, Hrg. Freunde Frankfurts e.V., Wilhelm E. Opatz (Hrsg), Junius Verlag 2018