Das verborgene Wohnen

Wohnen und Leben – kein Widerspruch

Der scheinbar eingängige Spruch, mit dem Ikea jahrelang warb, „Wohnst Du noch oder lebst Du schon“, war und ist Unsinn. Leben ist nicht die Steigerung von Wohnen, sondern Wohnen und Leben sind identisch miteinander, wie die englische Übersetzung von „to live“, die beides meint, deutlich macht.

Wer Wohnen hört, denkt meist an ein neues Haus, an die Möblierung seiner Wohnung oder an Design. Doch in seiner ursprünglichsten Bedeutung ist Wohnen eine kulturelle Metapher und eine grundsätzliche Ausdrucksform, die so alt wie der Mensch ist. Kein physisches oder psychisches Existieren des Menschen ist ohne Wohnen möglich. Jeder, der lebt, wohnt – wie primitiv auch immer.

Gerd Selle erklärt in seinem Buch „Die eigenen vier Wände“ 1 die bis in die Anfänge der Menschheit zurückreichende Geschichte des Wohnens. Seiner Meinung nach sind „unsere Wohnbedürfnisse eingebunden in das gesellschaftliche Gedächtnis des Behaustseins“.
Wer Wohnen wie viele heute für einen individuellen Akt hält, irrt gewaltig. Wir wohnen wie seit Jahrtausenden gewohnt und wiederholen täglich  uralte Muster der Kulturgeschichte, die unsere Vorfahren geprägt haben. Selle dazu: „Unsere persönlichen Kulturbiographien reichen sehr viel weiter zurück als in das individuell Unbewusste“.

Die Höhle wurde gegen das Haus getauscht, das Herdfeuer gegen den Kamin, aus dunklen Löchern wurden dank dem Baustoff Glas helle Wohnungen, doch am eigentlichen Wohnen hat das wenig geändert.
Im Wohnen hat es nie die Revolution gegeben, die viele Hersteller von Produkten. uns immer wieder suggerieren. Die eigentliche Revolution, die auch das Wohnen beeinflusst hat, war die Gewinnung des Feuers aus Bränden, dann seine künstliche Herstellung und seine Bedeutung als Mittelpunkt des Wohnens.

Vor diesem Hintergrund kann man Wohnen durchaus konservativ nennen. Es widersetzt sich schnellen Änderungen, nicht zuletzt weil wir nach wie vor steinzeitlich geprägt sind. Obwohl es uns das elektrische Licht inzwischen ermöglicht, die Nacht zum Tage zu machen, hat uns der alte Hell-Dunkel-Rythmus von Tag und Nacht noch fest im Griff und kontrolliert unser Leben. Für das Wohnen gilt Ähnliches, weil es immer noch wie in grauer Vorzeit vor allem Schutzsuche und Rückzug aus dem gefährlichen Außen in ein intimes und sicheres Innen ist, ohne das wir nicht existieren können. Wer wohnt, erlebt laut Selle nach wie vor die „uralte Gewissheit des Geschützseins real und emotional“. My home is my castle, wie die Engländer sagen, ist dafür ein einleuchtendes Bild.

Die frühen Behausungen hatten keinen Blick nach aussen. Die Fenster der späteren Häuser erlaubten dann den Blick aus der Sicherheit des geschützten Innenraumes hinaus. Der Fernseher heute gibt die Möglichkeit, die äußere Welt zu erleben, während man bequem im Sessel sitzt, „channel hopping als Ersatzabenteuer“, wie Selle es nennt.

Wie wichtig uns ein sicheres Wohnen ist, zeigt unser Unwohlsein, wenn wir mit Obdachlosen konfrontiert werden. Aber selbst ihre primitiven Unterkünfte in Ecken oder unter Brücken machen den existentiellen Wunsch nach einer Behausung deutlich. Auch unter den erbärmlichen Bedingungen eines Flüchtlingslager reicht ein durch Decken und Schnüre suggerierter Raum, um wenigstens ein provisorisches Wohngefühl zu schaffen.

Wenn und wo alles fehlt, da wird der eigene Körper des Menschen zum Gehäuse. Das Haus ist die dritte Haut des Menschen, ein erweiterter Körper, der gegen An- und Eingriffe verteidigt werden muß. Was für den Menschen gilt, gilt auch bei Tieren. So macht das Schneckenhaus sehr überzeugend die untrennbare Einheit von Wohnen und Leben deutlich. Interessant in diesem Zusammenhang sind neueste Untersuchungen 2, wonach der Dekonstruktivismus und seine Zerstückelung der Architektur die unbewußte Sicherheit zerstört, die der Mensch mit Bau, Haus und Wohnung verbindet.

Auch wer bei Sigmund Freud oder C.G.Jung nachliest, erfährt, daß Wohnen in einem Haus und seinen Zimmern zu den archetypischen Bildern der Menschheit zählt. Wer sich im Traum in einem Haus bewegt, erfährt sein eigenes Inneres. Was im Traumhaus geschieht, geschieht in uns selbst. Unser Körper ist das Haus, und darin gut zu wohnen, bedeutet, sich mit und in sich wohl zu fühlen und bei sich zu sein. Laotse, der chinesische Religionsstifter, hat das sehr schön beschrieben: „Die Realität eines Raumes besteht nicht aus Mauern und Dach, sondern aus dem inneren Raum, in dem man leben muß“.

Das Haus ist der auf ein fassbares Maß geschrumpfte Kosmos, in dem das Bild von der Beziehung des Menschen zur Welt sich immer wieder erneuert. Insofern darf nicht überraschen, dass alles, was mit Haus und Wohnung zu tun hat, nicht nur funktionalen Gesetzen folgt.
Das Satteldach, das die Mehrzahl unserer Einfamilienhäuser aufweist, ist als Schutzsymbol eines der ältesten der Welt. Die bis heute latente Ablehnung des Flachdaches in der modernen Architektur rührt aus dem Unbehagen, ein instinktiv gewohntes Bild zu verlassen. Viele der modernen Vorzeigesiedlungen, die mit Flachdächern errichtet wurden, sind inzwischen rückverwandelt zu Orten mit Satteldächern, weil sich die Menschen dort wohler fühlen.

Ähnliches gilt für den Grundriss. Mit seinen unterschiedlichen Kammern reicht er zurück in die Anfänge des Wohnens, nachdem der Mensch die Höhle verlassen hatte. Zimmer, in denen man die Tür hinter sich schliessen kann, geben Sicherheit. Der offene Grundriss, in dem die Räume und eventuell sogar die Geschosse ineinander fließen, eine Erfindung der Moderne, verunsichert viele und wird meist nur von selbstbewussten Menschen gewählt.
Denn die Wand ist das architektonische Gliederungssystem schlechthin. Wände bilden den Hintergrund, vor denen sich unser Leben abspielt. Sie sind Stütze und garantieren Stabilität und Festigkeit. Sich in einem Raum ohne Wände zu bewegen, heißt, sich selbst als Körper im Raum definieren zu müssen. Das wirft den Menschen auf sich selbst zurück, was vielen unheimlich ist.

Auch der annähernd 10.000 Jahre alte, rechtwinklige Grundriss mit den geraden Wänden bestätigt die Beständigkeit alter, innerer Muster, nach denen wir wohnen. Technisch und finanziell könnten wir heute in Kugeln,  wellenförmigen Häusern, spitzwinkligen Behausungen leben, aber das tun die wenigsten, auch wenn sie es sich ästhetisch und finanziell leisten könnten. Wir bleiben vielmehr beim Gewohnten.
Nicht zuletzt das Glashaus, ebenfalls eine Errungenschaft der Moderne, die das ganze Haus zu einer Art Fenster macht, findet keine einheitliche Begeisterung. Decken, Böden, Wände – statisch gesehen ist heute dank einer Entwicklung des letzten Jahrzehntes selbst das totale Glashaus denkbar. Aber der Trend geht zurück zu einer Wohnarchitektur mit festen Mauern und Fenstern. Der Wunsch nach Geborgenheit und Rückzug ist für viele mit dem Glashaus, wo man wie auf dem Präsentierteller sitzt, nicht vereinbar.

Obwohl Wohnen so beständig ist, daß Laura Weissmüller es als „Zwangsjacke“ bezeichnet, sind Architekten, die neue Wohnformen erfinden, gesucht. Einer der heute kreativsten und radikalsten ist der 1971 geborene Japaner Sou Fujimoto. Für ihn ist in einem Haus zu wohnen spielerisch wie in einem Baum zu leben. Extreme Offenheit und heitere Strenge charakterisieren seine Hausskulptur aus dem Jahre 2o11 im Kölner Skulpturenpark, einem seiner wenigen bisher realisierten Entwürfe. Sou Fujomoto hat weniger Lösungen als Fragen an das heutige Wohnen. "Wenn eine Wand nicht länger eine Wand ist, könnte eine neue Architektur entstehen", meint er. Seine Häuser wirken wie nach allen Seiten offene Regale, in denen nichts vorformuliert ist. Die Bilder seine Bauten machen süchtig, aber welchen Erfolg er letztlich haben wird, bleibt abzuwarten.

1 Gerd Selle Die eigenen vier Wände, Zur verborgenen Geschichte des Wohnens, 1993
2 Anthony Vieler, un-Heimlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur. 2001

in: Betonprisma 96/2013