Bauen Wohnen Bleiben

Die wichtigste Aufgabe für Architekten

Wer würde nicht in eine der 514 Wohnungen von Herzog & de Meuron in Beirut einziehen, um dort zu wohnen und zu bleiben. Wenn man sich diese Luxuswohnungen nur leisten könnte.

Das Konzept dieses atemberaubenden Terrassenhochhauses ist das eines vertikalen Dorfes mit einer Fülle an unterschiedlichen Wohnungsgrundrissen. Durch große Terrassen und hängende Gärten ist eine grüne Architektur entstanden, die Privatheit wie in der Natur mitten in der Stadt ermöglicht. Die gestapelte Konstruktion aus hellen Scheiben und grossen Glasflächen ist transparent, lichtdurchlässig und besticht durch grosse Leichtigkeit. Das Haus steht auf Stützen in einem niedrigen Wasserbecken und wirkt  fast schwebend.

Die Beirut Terraces sind ein Ausnahmebau. Nicht viele Menschen können sich solche Luxusarchitektur leisten. Und nur wenige Architekten erhalten die Chance, sie einmal im Leben zu bauen.

Wohnhochhäuser sind außerhalb Deutschlands ganz normal. Bei uns gerieten sie in den 1970er und 1980er Jahren vor allem für Familien mit Kindern in Verruf. Das verschiebt sich gerade wieder, weil gestiegene Grundstückspreise das Bauen in die Höhe nötig machen.

Wohnungsbau oder besser eine Architektur des Wohnens  ist eine schwierige Aufgabe für Architekten. Die Vorschriften und Zwänge sind übermächtig, die Nutzer, ihre Bedürfnisse und Wünsche meist unbekannt. Gute Wettbewerbsergebnisse im Rahmen preiswerten Bauens werden bei der Realisierung oft so zurechtgespart das nichts als eine  renditenorientierte Wohntristesse übrig bleibt. „In Fesseln tanzen“ nannte Walter Gropius ein Bauen, das aus Schwächen und aus Beeinträchtigungen Stärken entwickeln kann. Im Wohnungsbau sind solche Überraschungen zu wünschen.

Eine Architektur des Wohnens, auch wenn sie preiswert sein soll, muss heute solide Stabilität aufweisen, funktionale Nützlichkeit, nachweisliche Energieeinsparung, eine garantierte Nachhaltigkeit und eine überzeugende Bandbreite ästhetischer Lösungen. Auch ein preiswerter Bau kann ein Ort der Wertschätzung sein, originell und überzeugend wie das Studentendort „Frankie + Johnny“ in Berlin. Holzer Kobler Architekten errichteten es 2018  aus für eine dauerhafte Wohnnutzung umgebauten Überseecontainern auf einem städtischen Restgrundstück. Die ruppige Anmutung der Container, die an den Stirnseiten und Seitenflächen aufgeschnitten und Raum hoch verglast sind, überzeugt ebenso wie die Formation der drei fächerförmig angeordneten,  lang gestreckten Baukörper im Niemandsland der unmittelbaren Umgebung.

Eine Wohnarchitektur muss nicht nur eine Unmenge von Vorschriften bedienen, sie muss auch emotional ansprechend sein, kurz: ein Spielraum für Leben. Sie sollte die Bewohner, die sich hier eine Existenz einrichten und ein Zuhause zwar nicht erziehen, aber doch beeinflussen. Hanno Rauterberg beschrieb das intime Sich – Einnisten in einer Wohnung so: „Ein Haus – oder eine Wohnung – ist immer dann gut, wenn man hineinschlüpfen kann wie in einen schönen warmen Mantel. Erst wenn er verloren geht, weiß man, was man an ihm hatte.“
Dieser Vergleich macht deutlich, ein wie weitgehend unbewusstes Phänomen Wohnen darstellt, wenn erst sein Verlust dem Menschen seine Wichtigkeit vor Augen führt.

Von welch zentraler Bedeutung  die Wohnung als Rückzugsort ins Private und als Reaktion auf die eine weltweite Globalisierung ist, hat Schriftsteller und Philosophen immer wieder beschäftigt. Heidegger wies darauf hin, dass „bleiben“ und „bauen“ von demselben althochdeutschen „buan“ abstammen. Er schreibt, dass „Wohnen ein Grundzug des Seins“ sei und damit zu den Grundbedürfnissen des Menschen zähle. Für Heidegger ist Wohnen „an einem Ort bleiben, sich einrichten, sesshaft werden und Beziehungen zu Menschen vertiefen“. In diesem grundsätzlichen Sinn kann nur der Mensch wohnen, nicht das Tier. Für den Filmregisseur Wim Wenders ist Wohnen und Heimat weitgehend dasselbe und ein Menschenrecht, auf das er Anspruch hat. Der tschechische Kommunikationswissenschaftler Vilem Flusser dagegen behauptet, der Mensch könne auch ohne festen Ort ein „wohnendes Wesen“ sein. Er erläutert dies am Beispiel seines eigenen Schicksals. Es sei eine Katastrophe, die Heimat zu verlieren, bis man erkenne, dass man als wohnender Mensch überall beheimatet sein könne, und zwar im Sinne des „bei sich sein“. In dieser Situation wird dem Menschen der eigene Körper als Wohnung und Zentrum des Daseins bewusst. Ernst Bloch schließlich nennt Architektur „ einen Produktionsversuch menschlicher Heimat“, bemerkt  aber, dass in dieser Heimat noch nie jemand angekommen ist“, Heimat und Wohnen also lebenslängliche Aufgaben der Identitätsfindung sind.

Gewohnt wird in vielen Bauten, in Altenheimen, Kasernen, Hotels, Gefängnissen, Krankenhäusern , Studentenwohnungen. Und keine dieser Bauaufgaben eignet sich für eine exzentrische Architektur. Ein Aufsehen erregendes Bauen wird häufig hoch gelobt, verliert aber schnell an Reiz, weil man sich daran satt sieht.

Wo der Mensch wohnen soll, braucht es ein qualitätsvolles, aber weitgehend alltägliches Bauen, das nicht provoziert, sondern überzeugt, das eher bescheiden daher kommt als extravagant, das von undramatischer Stimmigkeit ist. In der Wirklichkeit des guten Wohnungsbaus geht es weniger um große Gesten als um traditionelle Tugenden wie Selbstverständlichkeit, Beständigkeit und Angemessenheit, die schon Vitruv unverzichtbar fand.
Ein formaler Minimalismus und eine reduzierte Ästhetik gefallen den meisten Menschen nicht. Denn nicht jeder kann, wie der Architekturkritiker Walfried Pohl schreibt, „ eine glatte Wand für ein Ereignis halten“. Eine Architektur aber, die keine Emotionen weckt, bleibt abstrakt. Ein Haus zum Wohnen, dass seine Nutzer zu sich wohl fühlenden Bewohnern macht, muss anschauungsreich, vielfältig, eventuell auch farbig mit sparsamen Ornamenten sein. Wenn der erste Eindruck des zukünftigen Bewohners positiv ist, loggt sich seine Neugierde  ein und er möchte bleiben.

Die Résidence Brandigan Réimerwee in Luxemburg-Kirchberg von Witry & Witry vereint alle beschriebenen Eigenschaften eines qualitätsvollen Wohnungsbaus. Der 5-geschossige, 120 m lange Bau, 2018 fertig geworden, ist leicht geschwungen, seine Ziegelfassade in vier ablesbare Einheiten geteilt. Durch die gläsernen Treppenhäuser und  unterschiedlichen Fenstergrössen ist das Haus gut proportioniert. Die Rückseite ist durch Balkone und Fensterflächen abwechslungsreich gegliedert. Dies ist ein im besten Sinne alltäglicher Bau, zurückhaltend, aber ansprechend, bei aller Strenge freundlich, durch den warmen, unregelmäßigen  Ziegel auch haptisch anziehend.

Bauen wird immer teurer. Deshalb bleibt die Suche nach neuen Wohnideen wichtig. Meist sind sie jedoch nur eine Fortsetzung vorhandener Konzepte: dichter bauen, schwimmende Häuser, Lücken schließen, Reduktion von Wohnflächen, Verringerung freistehender Bauten, vorfabrizierte Mikrohäuser, in denen man alles wegklappen, falten und stapeln kann. Doch wirklich innovativ ist da nichts. Das aber waren vor ungefähr zwanzig Jahren die winzigen Baulückenfüller von Katsu Umebayashi in Japan. Er errichtete in Tokio vielgestaltige mehrgeschossige Häuser auf kleinen Restgrundstücken ohne die teure Installation von Küchen und Bädern. Deren Funktionen übernahm die Stadt mit ihren zahlreichen Badehäusern und  Restaurants. Das allerdings geht nur dort, wo eine Stadt 24 Stunden am Tag geöffnet ist und die Gesellschaft und ihre Lebensweise anders als in Europa sind.
Hier wäre solches bauen nicht vorstellbar.

Einer der überzeugendsten Wohnbauten derzeit ist ein vorfabrizierter Gemeinschaftsbau in Berlin-Neukölln von Pranger Richter Architekten.
Sie trennten baulich und rechtlich zwischen Rohbau und Innenausbau. Es entstanden 24 Wohnungen à 118 Quadratmeter, eine Terrasse über 20 Quadratmeter, keine tragenden Wände. Die Wohnungen sind durch den Bau gesteckt wie Schubladen im Regal. Die Käufer konnten zwischen Standardwohnung, Loft und Eigenausbau zum Selbermachen wählen- und das zu konkurrenzlos niedrigen Preisen. Die Wohnungen waren im Nu verkauft. Diese Idee verlangt nach mehr.

betonprisma 108/2019